Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
31. Juli 1914 in Berlin anlangte, müde und gequält durch die zwiespältigen Eindrücke, fand sie einen
verzweifelten Brief von Paul Levi und eine dritte Anklageschrift vor. Dieses Mal war sie gegen ihre Massenstreikresolution
vom 14. Juni 1914 gerichtet. »Offenbar will man mich aus Sorge um meine werte Person bei diesen unruhigen Zeiten baldigst
hinter Schloß und Riegel bringen.« 74 Mitangeklagt waren Kurt Rosenfeld, Georg Ledebour und Wilhelm Düwell. Sie antwortete Levi, aus dem Internationalen Sozialistenkongreß
werde wohl nichts werden, »da der Krieg vor der Türe |464| steht. Von Brüssel und sonst wäre viel zu erzählen, aber zum Schreiben eignet es sich in diesen Zeiten nicht. Die Hauptsache
ist, zu überlegen, wie und was weiter von unserer Seite getan werden kann.« 75 Es gab noch eine ganz andere Neuigkeit: »Ich besitze ein höchst eigenes Telephon: Amt Südring, 1153. Na also!« 76 Er möge sie doch umgehend anrufen.
Bin tief erschüttert
Noch am 31. Juli 1914 hatte Rosa Luxemburg Paul Levi gebeten, nicht so verzweifelt zu sein: »frisch und schneidig« sollte
er ihr schreiben – »trotz alledem!« 77 Am folgenden Tag vermochte sie herzlichen Grüßen an Kostja Zetkin nur verbittert hinzuzufügen: »Bin tief erschüttert.« 78 Die Nachricht von der Ermordung Jean Jaurès’ am 31. Juli in Paris versetzte ihr einen Schrecken, den sie nie zu verwinden
glaubte. Ihm war sie in Brüssel am stärksten verbunden gewesen.
Ab 1. August setzten Schlag auf Schlag die verhängnisvollen Schritte der Mächtigen Europas ein, durch die die Völker in den
ersten Weltkrieg gestürzt wurden, waren sich die Regierungen doch nunmehr fast sicher, daß sie von den Parteien der II. Internationale
kaum Widerstand zu befürchten hatten.
Am 1. August befahl Wilhelm II. die Mobilmachung des deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine und erklärte Rußland den
Krieg. Unter Völkerrechtsbruch, ohne jede Kriegserklärung, marschierten deutsche Truppen in das neutrale Luxemburg ein. Auch
Frankreich erließ den allgemeinen Mobilmachungsbefehl. Zusammen mit Camille Huymans fuhr Hermann Müller, Mitglied des deutschen
Parteivorstandes, nach Paris, um mit den französischen Sozialisten zu verhandeln – nicht etwa über Aktionen gegen den Krieg,
sondern über das Verhalten bei den parlamentarischen Abstimmungen über die Kriegskredite in beiden Ländern. Der Parteivorstand
der deutschen Sozialdemokratie veröffentlichte am 1. August einen Aufruf, in dem er sich vom Klassenkampf gegen den Krieg
lossagte und an die Arbeiter appellierte, sich nicht zu Unbesonnenheiten, nutzlosen und falsch verstandenen Opfern hinreißen
zu lassen. Deutschland befände sich in einem Verteidigungskrieg, |465| erklärten führende Funktionäre der Partei und der freien Gewerkschaften.
Am 2. August einigte sich der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion mit vier gegen zwei Stimmen darauf, den
Abgeordneten eine positive Haltung zu den Kriegskrediten vorzuschlagen. Ähnlich verhielten sich die Führungen der meisten
Parteien der II. Internationale. Eine für den 2. August von der Generalkommission der Gewerkschaften einberufene Konferenz
der Verbandsvorstände beschloß, die Maßnahmen der Regierung bei der Mobilmachung zu unterstützen und während des Krieges keine
Lohnkämpfe zu führen.
Auf den Straßen sehe man nur noch eilende Reservisten mit Köfferchen und Mengen von Weibern und Kindern, die bis in die späte
Nacht herumstehen, schrieb Rosa Luxemburg am 2. August an Kostja Zetkin nach Stuttgart. »Die ganze Welt ist plötzlich ein
Irrenhaus geworden. Über Dein ›Austreten aus der Partei‹ habe ich gelacht. Du großes Kind, willst Du vielleicht aus der Menschheit
auch ›austreten‹? Über geschichtliche Erscheinungen von diesem Maßstab vergeht einem jeder Ärger, und es bleibt nur Platz
für kühle Überlegung und hartnäckiges Handeln. In einigen Monaten, wenn Hunger kommt, wird sich das Blatt allmählich wenden.
Bleib frisch und heiter wie ich.« 79 Auch gegen Paul Levis pessimistische Stimmung schrieb sie weiter energisch an. »Wir erleben so Großes und Neues, daß man
alle früheren alltäglichen Maßstäbe zum alten Eisen werfen muß.« 80 Einer solchen weltgeschichtlichen Wendung dürfe man nicht niedergeschlagen begegnen.
Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg; in Berlin stritt die sozialdemokratische Reichstagsfraktion über ihr
Verhalten in
Weitere Kostenlose Bücher