Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Käthe Schirmacher aus Danzig, entnehmen, die 1895 in Zürich
ihr Doktorexamen abgelegt hatte. Nach den Statuten war noch ein schriftliches Examen abzulegen, »bestehend in dreitägiger
Hausarbeit und in vierstündiger Klausur. […]. Endlich kommt der große Tag der mündlichen Prüfung. Man muß die Zeit dazu beim
Pedellen im Bureau erwarten, da es kein eigenes Wartezimmer für das ›Opfer‹ gibt. […] Im Senatszimmer, wo die Prüfung stattfindet,
sind vorläufig der Dekan, der Protokollführer und der Hauptprofessor. Die Prüfung beginnt […]. Eine Stunde geht damit hin.
Inzwischen hat sich der Saal gefüllt. Die Zeugnisse des Kandidaten zirkulieren, die ganze Fakultät ist versammelt, ein Gesumm,
Gebrumm, Gespräch füllt das mittlere und untere Ende des Tisches. Einige ziehen sich in die Fenstervertiefungen zurück und
verhandeln Privatangelegenheiten, Bücher und Kupferstiche gehen herum. Inzwischen beginnt die Prüfung im ersten Nebenfach,
nachdem der Dekan gefragt, ob der Kandidat sich vielleicht ausruhen will, nach einer halben Stunde schließt sich die Prüfung
im zweiten Nebenfach an, und endlich wird der Kandidat entlassen, damit in seiner Abwesenheit zur Abstimmung geschritten werde.
Der arme Kandidat muß inzwischen draußen auf dem Korridor warten, und da die Prüfungen stets sonnabends von 4–6 stattfinden,
schluckt er allen Staub, den die Besen der unterschiedlichen Reinemachefrauen aufwirbeln. Endlich hereingerufen, erhält er
sein: Bestanden und ein lateinisches Sprüchlein vom Dekan, nimmt |68| seine Dissertation unter den Arm, und während die Corona ihm munter plaudernd zur Hälfte den Rücken dreht, zieht er davon.« 75 Geprüft wurde Rosa Luxemburg in den obligatorischen Fächern Staatsrecht, Allgemeines oder Schweizerisches Verwaltungsrecht,
Theoretische und Praktische Nationalökonomie und in zwei der folgenden Wahlfächer: Finanzwissenschaft oder Statistik, Völkerrecht,
Rechts-Enzyklopädie, Transport- und Urheberrecht, Handels- und Wechselrecht.
Rosa Luxemburgs Dissertation war in deutscher Sprache geschrieben und stützte sich auf umfangreiche Literatur und Quellen
in mehreren Sprachen. Sie trug den Titel »Die industrielle Entwickelung Polens«, 1898 erschien sie bei Duncker &
Humblot in Leipzig; die russische Übersetzung wurde ein Jahr später in Petersburg veröffentlicht. Die Ergebnisse ihrer detaillierten
Untersuchung über die Entwicklung des Kapitalismus in Polen bestärkten Rosa Luxemburg in ihrem Standpunkt zur nationalen Frage,
den sie in der sozialdemokratischen Presse seit 1894 veröffentlichte und der von Leo Jogiches und Julian Marchlewski geteilt
wurde. Polen stehe in ökonomischer Beziehung keine Absonderung von Rußland bevor, es werde vielmehr mit jedem Jahr der Entwicklung
großkapitalistischer Produktion stärker an Rußland gefesselt. Seit in den letzten Jahrzehnten die Industrie und die Geldwirtschaft
zu ausschlaggebenden Faktoren im gesellschaftlichen Leben beider Länder geworden seien, knüpften Austausch und Arbeitsteilung
zwischen Rußland und Polen tausend Fäden. Die polnische Bourgeoisie sähe darin ein Fundament ihrer Herrschaft, eine Quelle
zur Bereicherung. »Die verschiedenen nationalistischen Elemente der polnischen Gesellschaft endlich fassen den ganzen sozialen
Vorgang als einziges großes nationales Unglück auf, welches ihre Hoffnungen auf die Wiederaufbauung eines unabhängigen polnischen
Staates unbarmherzig zertrümmert. […] Die kapitalistische Verschmelzung Polens und Rußlands erzeugt als das Endresultat, was
in gleichem Maße von der russischen Regierung, der polnischen Bourgeoisie und den polnischen Nationalisten außer acht gelassen
wird: die Vereinigung des polnischen und des russischen Proletariats zum künftigen Syndikus bei dem Bankrott zuerst der russischen
Zarenherrschaft und dann der polnisch-russischen Kapitalherrschaft.« 76
|69| Rosa Luxemburg fand durch ihre Untersuchungen sowohl Karl Marx’ Hauptaussagen im dritten Band des »Kapital« als auch ihre
eigene Ansicht zum Platz des geteilten Polens im Rahmen der kapitalistischen Ökonomik der Teilungsmächte, insbesondere Rußlands,
bestätigt. Der schon im »Kommunistischen Manifest« begründeten proletarischen Revolutionstheorie zufolge werde nur eine allgemeine
Revolution, die die kapitalistische Ordnung stürzt und die Weltherrschaft des Kapitals vernichtet, zur Befreiung aller Völker,
darunter auch des
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