Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
mordenden Hunnen unter König Etzel getan hätten, erwartete Rosa Luxemburg, daß der
Parteivorstand sofort zu Protestversammlungen aufrief. Enttäuscht mußte sie zur Kenntnis nehmen, daß weder Wilhelm Liebknecht
noch Paul Singer, die sie in dieser Sache aufsuchte, angesichts der sommerlichen Hitze eine China-Agitation für sinnvoll hielten.
Die junge Parteigenossin wurde sich ihrer ganzen Ohnmacht bewußt.
Da traf am 7. August 1900 die deutsche Sozialdemokratie ein schwerer Schlag. Völlig unerwartet starb Wilhelm Liebknecht, der
noch eben rüstige, markige Alte. »Ach, Kinder, es fängt bei uns an zu bröckeln!« schrieb Rosa Luxemburg tief erschüttert an
Kautskys, die ihre Ferien an der Ostsee verbrachten. »Der
moralische
Verlust, den uns L[iebknecht]s Tod bringt, ist größer, als Ihr vielleicht im ersten Augenblick denkt.« Mit ihm |154| verlor Rosa Luxemburg auch eine wertvolle persönliche Stütze. Noch kurz zuvor hatte Liebknecht ihr bei einem Treffen in der
»Vorwärts«-Redaktion zugeflüstert, daß er sie gern als Redakteurin vorgeschlagen hätte, und ihr geraten, wenn sie etwas »Fulminantes«
schriebe, es im von ihm geleiteten zentralen Organ der Partei und nicht in der »Leipziger Volkszeitung« zu veröffentlichen.
Sie versprach’s, und er versicherte: »›Für Sie werde ich immer alles tun, was ich kann.‹ […] und zum Schluß bat er mich noch
herzlich, zu ihm zu kommen, er und seine Frau würden sich sehr freuen. Es ist eine Kleinigkeit, aber es tut mir wohl, von
ihm in Frieden Abschied genommen zu haben. […] Der arme Alte, er ist doch noch knapp zur rechten Zeit für seinen Ruhm gestorben
…« 15
Kautskys kehrten zur Beerdigung nach Berlin zurück, und auch Leo Jogiches traf endlich ein. Am 12. August 1900 meldete er
sich unter der Adresse von Rosa Luxemburg an. Am selben Tag gaben Hunderttausende Wilhelm Liebknecht das letzte Geleit zum
Friedhof Berlin-Friedrichsfelde.
Am 17. September 1900 mußte Paul Singer anstelle des verstorbenen Wilhelm Liebknecht und des erkrankten August Bebel den sozialdemokratischen
Parteitag in der Mainzer Stadthalle eröffnen. Rosa Luxemburg meldete sich gleich zu Beginn der Diskussion zum Geschäftsbericht
des Parteivorstandes zu Wort und kritisierte, daß nicht alles Notwendige getan wurde, um die Agitation gegen den Chinakrieg
zu entfachen. Für eine Oppositionspartei sei dies angesichts der Tragweite dieses Eroberungskrieges, der einen Wendepunkt
in der Geschichte des ganzen kapitalistischen Europas signalisierte, unverantwortlich. Als die Debatte beim speziellen Tagesordnungspunkt
über die Stellung der Partei zur imperialistischen Weltpolitik fortgesetzt wurde, konkretisierte Rosa Luxemburg ihre Kritik.
Der Parteivorstand hätte in einem Manifest aufklären und einheitliche Direktiven herausgeben müssen. Da der Chinakrieg der
erste Vorstoß der internationalen Reaktion in der weltpolitischen Arena sei, in den alle Kulturstaaten verwickelt sind, komme
es auf einen entschiedenen Protest der vereinigten Arbeiterparteien Europas an. Dabei dachte sie nicht in erster Linie an
eine Protestresolution des internationalen Kongresses, sondern an Impulse, die die Volksmassen in allen Ländern aufrütteln
sollten. |155| Die Initiative dazu hätte von der deutschen Sozialdemokratie ausgehen müssen, weil sich Deutschland im Krieg gegen China in
den Vordergrund schob. »Wir machen uns wirklich in weiten Kreisen der Bevölkerung lächerlich«, empörte sie sich. »Wir wettern
jeden Tag gegen die Weltpolitik, wir donnern gegen den Militarismus in Friedenszeiten; wo es aber einmal wirklich zum Krieg
kommt, unterlassen wir es, das Fazit zu ziehen und zu zeigen, daß unsere jahrelange Agitation auch wirklich in die Halme geschossen
ist. Es ist wahr, die wichtigsten Ereignisse des chinesischen Krieges, die kaiserlichen Reden, die Absendung der Kriegsschiffe
nach dem Orient, sind in die Ferienzeit gefallen. Aber um sich während eines folgenschweren Krieges, den Deutschland führt,
Ferien zu gönnen, dazu muß man mindestens Reichskanzler sein; wir sind eine Oppositionspartei, und als solche muß man auf
dem Posten sein.« 16 Wilhelm Pfannkuchs Argument, es fehle an Referenten, war für Rosa Luxemburg unter aller Kritik. Daß wir nicht ein Dutzend
Bebels hätten, sei doch wohl ein alter Ladenhüter.
Andere Delegierte stimmten Rosa Luxemburg zu, doch Paul Singer versuchte sie zu beschwichtigen. Fräulein
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