Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
bedeutendste Kriegsflotte anzuschaffen. Ein wahnsinniger Rüstungswettlauf zwischen allen imperialistischen
Großstaaten sei die Folge und belaste die Völker unsäglich. »Nicht Abschwächung und Milderung der sozialen Kämpfe, sondern
Steigerung der Gegensätze, Verschärfung der Kämpfe ebenso außerhalb wie innerhalb der modernen Gesellschaften haben wir demnach
jetzt zu gewärtigen.« 10
Für Rosa Luxemburg ergaben sich zwei vordringliche Fragen: Wie konnte diese Entwicklung wirksam bekämpft werden, und wie konnten
die entsprechenden Aktionen der sozialdemokratischen Parteien international besser koordiniert werden?
Vom Mai bis Juli 1900 befand sie sich jedoch in einer Schaffenskrise. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, die für die |152| »Neue Zeit« anläßlich des bevorstehenden internationalen Sozialistenkongresses in Paris geplante Artikelserie zu schreiben.
Sie fühlte sich geistig leer und ausgepowert. »Positives Material nicht die Bohne«, klagte sie in einem Brief an Leo Jogiches,
»nur so ein Streifzug im Äther der Abstraktion und Spekulation. Allerdings ist das Thema (dieser verdammte ›Internationalismus‹)
an sich schon irgendwie ätherisch verschwommen.« Dabei hatte sie sich doch im Laufe des Jahres »so vieles verschiedenartiges
Zeug angelesen«. 11 Die vielfältige Kleinarbeit, die sie für die deutsche wie die polnische Partei leistete, war zeitaufwendiger und kräftezehrender
als gedacht. Obendrein untersagte ihr die Redaktion der »Leipziger Volkszeitung« nach dem Abbruch der persönlichen Beziehungen
zu Bruno Schoenlank vorübergehend die Mitarbeit, ein bereits fertiggestellter China-Artikel wurde nicht mehr angenommen. Die
engagierte Politikerin war betroffen, von dem finanziellen Verlust ganz zu schweigen. Dennoch schrieb sie an ihren Geliebten,
daß man deshalb nicht den Kopf verlieren dürfe. Es gebe größere Unglücksfälle im Leben und in der politischen Arbeit. 12
Hauptgrund für ihr neuerliches Unbehagen war vermutlich die Unzufriedenheit darüber, daß der Mensch, den sie am meisten liebte
und brauchte, nicht an ihrer Seite in Berlin war. Sie habe hier nacheinander alles durchprobiert, und alles sei ihr nach kurzer
Zeit zuwider geworden: die Verhältnisse in den deutschen Parteikreisen, der Zauber des Familienlebens mit Kindern, der polnische
Freundeskreis, der gelegentliche Flirt. Rosa Luxemburg sehnte sich mehr denn je nach einem ruhigen Leben in Arbeit und Liebe
mit Leo Jogiches. In ihrer Vorstellung zeichnete sie das Bild einer idealen Beziehung. »Wahrhaftig, kein anderes Paar hat
eine solche Aufgabe im Leben, gegenseitig einer aus dem anderen einen Menschen zu machen, wie wir! Ich fühle das auf Schritt
und Tritt, und um so schmerzlicher empfinde ich unsere Trennung. Wir beide ›leben‹ ständig innerlich, d. h., wir verändern
uns, wir wachsen, infolgedessen entsteht dauernd ein inneres Auseinanderklaffen, eine Unausgewogenheit und Disharmonie von
Teilen der Seele untereinander, man muß erneut eine innere Revision durchführen, Ordnung und Harmonie herstellen. Man hat
also |153| dauernd mit sich selbst zu tun, um aber nicht jeden Augenblick den allgemeinen Maßstab der Dinge zu verlieren, und das sind
meines Erachtens: Nützliches leisten im Leben, nach außen die positive Tat und das schöpferische Wirken, kurz, um nicht in
geistiger Konsumtion und Verdauung zu versacken, dazu bedarf es der Kontrolle eines anderen, nahen Menschen, der alles versteht,
der aber außerhalb des die Harmonie suchenden ›Ich‹ steht. Ich zweifle, ob Du etwas davon verstehst, denn es gleicht einer
Reihe algebraischer Zeichen.« 13
Der 18. Juli, Jogiches’ Geburtstag, kam näher. Sie hatte bis zuletzt gehofft, mit ihm in Berlin feiern zu können, »entweder
durch ein lustiges kleines Besäufnis oder durch
vergnügtes Beisammensein «
14
. A
ber daraus wurde leider nichts, weil er in Zürich ein Referat nicht rechtzeitig fertigstellen konnte. Doch die sich überstürzenden
innen- und außenpolitischen Ereignisse verdrängten Rosa Luxemburgs persönliche Sorgen.
Da möchte ich, daß wir uns etwas mehr auf der Höhe zeigen
Als Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven deutsche Truppen zur Niederschlagung des Aufstandes gegen die zunehmende koloniale
Unterwerfung in der chinesischen Provinz Shantung mit seiner berüchtigten »Hunnenrede« aufforderte, sich dort denselben Namen
zu machen, wie es vor tausend Jahren die
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