Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
einer allgemein verbreiteten Einrichtung,
namentlich auf unserem Festlande, werden oder nicht« 4 . Was vorher unmöglich schien, war für Rosa Luxemburg nun zumindest vorstellbar geworden, weil die Konzentrationsprozesse
in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten Einfluß auf die Funktionen des Staates hatten, sie modifizierten: Der Produktionsprozeß
werde immer stärker vergesellschaftet, und der Staat mische sich immer mehr ein. Gleichzeitig agiere das kapitalistische Privateigentum
zunehmend geschlossener, und |150| die staatliche Kontrolle fungiere immer stärker ausschließlich für Klasseninteressen. Die Folgen lägen für sie klar auf der
Hand:
» Sollte
je die amerikanische Kartellwirtschaft zum internationalen Übel werden, dann wird sie nicht ein Hindernis für den Sozialismus,
sondern eine Geißel sein, die alle Opfer des siegreichen Vormarsches des Kapitals in die Arme des Sozialismus peitschen und
die Gegensätze innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft so auf die Spitze treiben wird, daß sie die sozialistische Umwälzung
als die einzige Erlösung aus der Pein der Kapitalsherrschaft begrüßen wird.« 5
Noch eine andere Entwicklung verfolgte Rosa Luxemburg mit ebenso großer Aufmerksamkeit: die zunehmenden Expansionsbestrebungen
und den forcierten Flottenbau in Deutschland. Im Wettlauf mit Großbritannien war die Aufrüstung zur See mit der Annahme des
ersten Tirpitzschen Flottengesetzes im März 1898 eine beschlossene Sache. Die zweite Flottenvorlage sollte bald, im Juni 1900,
nachkommen. Bereits im Dezember 1897, unmittelbar nachdem deutsche Marineeinheiten die Bucht von Kiautschou besetzt hatten,
verkündete der spätere Reichskanzler Bülow: »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem
anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber. […] Wir
wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.« 6 Als Ende April 1898 der Spanisch-Amerikanische Krieg ausbrach, in dem zum ersten Mal um die Neuverteilung eines Kolonialgebietes
gekämpft wurde, demonstrierte auch das Deutsche Reich mit der Entsendung eines Flottengeschwaders nach Manila Ansprüche auf
Teile des spanischen Kolonialbesitzes im Pazifik und im Fernen Osten. Ende 1898 richteten sich die Expansionsbestrebungen
zusätzlich erneut auf den Vorderen Orient. Äußeres Zeichen war die Orientreise des deutschen Kaisers, Wilhelms II. Nachdem
der türkische Sultan Abd ul Hamid II. zehn Jahre zuvor der Deutschen Bank die Konzession zum Bau der Eisenbahnlinie Ismid–Angora
(Ankara) erteilt hatte, erhielt die daraufhin gegründete Anatolische Eisenbahngesellschaft 1899 die Genehmigung zum Bau eines
Hafens in Haidar-Pascha und einer Eisenbahnlinie Konia–Bagdad–Basra. Mit dieser nie fertiggestellten |151| »Bagdad-Bahn« wollte Deutschland das Verkehrsmonopol der Briten in Mesopotamien durchbrechen, sich Einfluß auf das Osmanische
Reich sichern und selbst in Gebiete Vorderasiens vorstoßen. Im Dezember 1899 erklärte Bülow dem Reichstag, die Zeiten politischer
Ohnmacht und wirtschaftlicher Demut seien für Deutschland vorbei. Er forderte offen eine aktive militärische Vorbereitung
für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt. 7
Diese Entwicklungen wurden von Rosa Luxemburg zum Auftakt einer sozialdemokratischen Versammlungskampagne gegen das Wettrüsten
im Februar 1900, bei der allein in Berlin am 7. Februar 1900 19 Massenkundgebungen stattfanden, ironisch kommentiert: »Der
Weltmachtkoller, der gewisse Kreise in Deutschland ergriffen hat, begnügt sich nicht mehr mit tollen Zukunftsphantasien, worin
Deutschland als erste Kolonial- und Seemacht England ebenbürtig an der Seite oder gar auf dessen Trümmern steht. Sein Blick
richtet sich jetzt prüfend auf die
Vergangenheit
, und diese erscheint vom Standpunkte des Kolonialfiebers als eine einzige große
Unterlassungssünde
. An der heutigen Flottenvorlage ist nur auszusetzen – daß sie nicht schon vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren eingebracht
worden war.« 8 In ihrem Artikel »Ein Ergebnis der Weltpolitik« folgerte sie: »Die Weltpolitik führt in allen Fällen und auf allen Wegen
zum gleichen Ziel: zur
Stärkung des Militarismus.
« 9 Deutschland, das bereits zu Lande eine Militärmacht ersten Ranges sei, werde nun durch seine imperialistischen Gelüste dazu
getrieben, sich auch die
Weitere Kostenlose Bücher