Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
mit ganzem Herzen dabei. Ob sie nun für die ganz Kleinen mechanisches Spielzeug in Betrieb setzte, ob sie für die Größeren
Städte baute oder Geschichten erzählte, ob sie mit ihnen um die Wette zeichnete oder ob sie sich mit ihnen in Wald und Feld
erging, Pflanzen beschauend, sammelnd und erklärend, oder ob sie den ganz Großen in unterhaltender Form Geschichte oder Naturkunde
beibrachte – sie alle hingen an ihrem Mund und folgten willig ihrer Führung.« 67 Luise Kautsky war im Sommer 1901 von ihr tief beeindruckt: »[…] sie ist so reizend u. in so heiterer frischer Laune, daß
es ein Vergnügen ist, mit ihr zu sein.« 68
Nebenbei trug Rosa Luxemburg sich mit dem Gedanken umzuziehen. »Sie ist jetzt übrigens auf der Wohnungssuche«, berichtete
Luise Kautsky ihrem Mann. »Neufelds müssen ziehen u. wollen das Pensionat aufgeben, das auch der Rosa schon zum Hals heraushängt.
Sie hat nun den abenteuerlichen Plan, sich selbständig zu machen, d. h. auf eigene Faust zu wirtschaften mit einem Dienstmädchen.
Ich habe schon mit ihr hin u. her geredet, aber sie will’s nun mal probieren.« 69 Wie lange sich diese Wohnungssuche hinzog, ist nicht bekannt. Spätestens im November oder Dezember 1901 bezog Rosa Luxemburg
eine Wohnung in der Cranachstraße 58 in Friedenau, in der sie sich mit Leo Jogiches einrichtete. Hier wohnte sie fast zehn
Jahre, bis zum Sommer 1911.
Steck Deinen Finger nicht zwischen die Tür
»Nun haben wir wieder die schönste Polendebatte«, erklärte Rosa Luxemburg am 23. September 1901 auf dem Parteitag in Lübeck. 70 Sie trat gegen einen Resolutionsantrag von Georg Ledebour auf, in dem die Delegierten eine bessere Zusammenarbeit der deutschen
Sozialdemokratie mit der Organisation der polnischen Sozialdemokraten in Deutschland anmahnen sollten. Ihre Reaktion war unwirsch,
weil sie seit ihrer Ankunft in Deutschland viel Kraft und konkrete Arbeit für die PPS in Preußen bzw. für die Agitation der
deutschen Sozialdemokratie unter der polnischen Bevölkerung in Oberschlesien und in der Provinz Posen investiert hatte. Ihrer
Ansicht nach |170| waren Georg Ledebour, Georg Haase ebenso wie viele andere Genossen bei weitem nicht ausreichend informiert und neigten zu
groben Fehleinschätzungen.
Rosa Luxemburg dagegen war eine besondere Vertrautheit mit der polnischen Frage nicht abzusprechen. Bis ins Detail wußte sie
über die Geschichte ihres Geburtslandes und über den ökonomischen Entwicklungsstand in den drei polnischen Teilungsgebieten
Bescheid, besaß fundierte Kenntnisse über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in Russisch-Polen sowie Arbeitskontakte
zu den Akteuren in Posen, Oberschlesien und in den Emigrationsländern. 71
Ihrer Ansicht nach waren die in und zwischen den Organisationen wiederholt auftretenden Kontroversen nicht auf Konflikte zwischen
Deutschen und Polen zurückzuführen, sondern ergaben sich aus dem latent existierenden Gegensatz »zwischen polnischen Sozialdemokraten,
die auf internationalem Boden stehen, und solchen, die auf nationalem Boden stehen« 72 . Letztere hätten auf dem Parteitag der PPS am 27. Mai 1901 das Tischtuch zwischen sich und der deutschen Sozialdemokratie
durchschnitten und verbreiteten nun als »eine Handvoll Krakeeler« Lug und Trug. Auch sie, Rosa Luxemburg, werde der Unterdrückung
polnischer Sozialisten beschuldigt, obwohl sie sich in ihrer Broschüre »Zur Verteidigung der Nationalität« klar und deutlich
für den Schutz der polnischen Nationlität ausgesprochen habe, selbstverständlich im internationalistischen Sinne. Rosa Luxemburg
setzte durch, daß über den Antrag Ledebours hinweggegangen wurde.
Man wandte sich hauptsächlich Problemen der Budgetbewilligung und der Zollpolitik zu. Auch hier war die promovierte Staats-
und Wirtschaftswissenschaftlerin eine kompetente Diskussionspartnerin mit dezidierter Meinung: sie beantragte, daß die sozialdemokratische
Opposition auch in Landtagen grundsätzlich keine Zustimmung zum Gesamtbudget geben solle.
Rosa Luxemburg selbst mußte den Parteitag vorzeitig verlassen. Wegen angeblicher Beleidigung des preußischen Kultusministers
Studt in ihrer Broschüre »Zur Verteididgung der Nationalität« war in Posen eine Gerichtsverhandlung anberaumt. Doch weder
das Urteil des Königlichen Landgerichts |171| am 26. September 1901 – 100 Mark Geldstrafe – noch die Bespitzelung ihrer Tätigkeit durch die Königliche Polizei in Posen
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