Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Gemeinderäten. Diese hätten zwar auch administrative Funktionen und müßten bürgerliche
Gesetze ausführen. Doch sei die Munizipalität aus der lokalen Selbstverwaltung erwachsen. Zentralregierung und Gemeinde seien
also zwei entgegengesetzte Pole. Daraus ergebe sich für die sozialistische Taktik ein grundverschiedenes Verhalten: »Die Zentralregierung
des heutigen Staates ist die Verkörperung der bürgerlichen Klassenherrschaft, deren Beseitigung eine unumgängliche Voraussetzung
des sozialistischen Sieges ist, die Selbstverwaltung ist das Element der Zukunft, an das die sozialistische Umwälzung in positiver
Weise anknüpfen wird.« 53 Folglich könnten die Sozialisten auf kommunaler Ebene, in den Bereichen Schul-, Gesundheits- und Armenwesen, Beleuchtung
und Wasserversorgung, auch Theater und Kunst, durch konstruktive Kleinarbeit Nützliches leisten. Der Aktionsradius für revolutionäre
Realpolitik war für Rosa Luxemburg ebenso weit wie differenziert. Wolle man ihn nutzbar machen, so dürften sich »Arbeitervertreter«
und bürgerliche Politiker nicht nur dadurch unterscheiden, daß erstere nebenbei auch noch vom Sozialismus schwatzen. 54
Eine differenzierte politische Strategie und Taktik hielt sie für unerläßlich, denn in dem Maße, »wie der politische Kampf
der Arbeiterklasse sich in jedem Lande entwickelte, an Umfang, Tiefe und Mannigfaltigkeit der Formen zunahm, erwuchsen aus
ihm neue Probleme«. 55 Daß verschiedene Auffassungen vom politischen Kampf in der Arbeiterbewegung eines Landes miteinander konkurrieren und auch
eine vereinigte Linke sich niemals als kompakte politische Gruppe betrachtet, verdeutliche die Entwicklung der französischen
Sozialisten. 56
Im Mai 1901 hatte in Lyon abermals ein Kongreß stattgefunden, der ohne greifbare Ergebnisse verlaufen war – es kam zu keiner
Einigung. Rosa Luxemburg gab zu bedenken, daß es |166| nicht genüge, wenn die einzelnen sozialistischen Parteigruppierungen – Guesdisten, Blanquisten, Jaurèsisten, Alemanisten,
kommunistische Allianz – und die Gewerkschaften den Sozialismus als gemeinsames Endziel postulieren. Wichtig sei die einheitliche
Auffassung vom Kampf um dieses Ziel. In der Presse und Literatur müsse es Raum für stark differierende Anschauungen geben,
in der Praxis müsse jedoch einheitlich nach sozialistischen Grundsätzen gehandelt werden. »Mit einer noch so abweichenden
Richtung ist eine Verständigung mehr oder weniger möglich, wenn sie etwas Bestimmtes, Scharfumgrenztes, Formfestes darstellt« 57 , die Vereinigung mit dem rechten Flügel in Frankreich, wie ihn Viviani und Jaurès repräsentierten, bedeute dagegen eine Vermählung
mit dem Chaos, mit der Prinzipien- und Disziplinlosigkeit.
Rosa Luxemburg sprach sich für eine feste Organisation und ein klar formuliertes Programm aus, wies aber zugleich darauf hin,
daß sich tiefliegende Gegensätze nicht durch Resolutionen aus der Welt schaffen ließen. Eine historisch gewordene Zersplitterung
ließe sich »nicht von heute auf morgen spurlos entfernen und durch völlige Verschmelzung ersetzen« 58 .
Aufschluß über ihre weiteren Studien zur Parteientwicklung gibt ihre 1902 unter dem Titel »Der Abschluß der sozialistischen
Krise in Frankreich« in der »Neuen Zeit« publizierte Artikelfolge, in der es heißt: »Nicht nur ist der Ausgangspunkt der sozialistischen
Arbeiterbewegung stets und naturgemäß eine
Vielfalt
von Gruppen und Richtungen. Auch in ihrer Weiterentwicklung ist die bereits einmal geeinigte sozialdemokratische Partei jedes
Landes Differenzierungen in ihrem Schoße, also neuen dezentralisierenden Tendenzen unterworfen. Die sozialistische Einigkeit
ist somit nicht ein einmaliges, vorübergehendes Problem in der Arbeiterbewegung, sondern vielmehr ein
ständiges
Problem, dessen jeweilige Lösung im richtigen Verhältnis zur prinzipiellen und taktischen Selbsterhaltung der Arbeiterpartei
ebenso immer von neuem geprüft werden muß wie das andere, mit ihm eng verwandte Problem: des richtigen Gleichgewichtes zwischen
praktischer Arbeit und den Endzielen des Sozialismus.« 59
Ähnlich wie ihre Schrift »Sozialreform oder Revolution?« fanden Rosa Luxemburgs Artikel gegen Millerands Regierungseintritt |167| viel Echo in der internationalen Arbeiterbewegung. Von Plechanow erfuhr sie, daß die russischen Sozialdemokraten eine Broschüre
mit ihren Artikeln herausbringen wollten. 60 Auch Vaillant zeigte lebhaftes
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