Rosa
spät?« Kars griff nach seinem Jackett.
Julia spitzte die Lippen. »Musst du auch weg?«
Kars zog die losen Blätter aus der Jackentasche und reichte sie Vicky. Sie schaute sie erst verblüfft, dann wütend an. »Du hast in meinem Zimmer herumgeschnüffelt!«
»Du redest schon seit einer Woche von nichts anderem, also habe ich sie kurz für dich durchgeschaut. Ich habe ein paar Stellen angestrichen.«
»Ich bin nicht eine deiner Redakteurinnen!«
Vicky lief noch röter an. Sie war sechzehn und ein paar Kilo zu schwer, hatte es jedoch auf dem Weg durch die Gebärmutter geschafft, an seinem Erbgut vorbeizuschlüpfen, und würde genauso schön werden wie ihre Mutter: dasselbe Gesicht, dieselben Augen, dasselbe dunkle Haar.
»Dein Vater hat keine Redakteurinnen mehr«, bemerkte Julia.
Kars ignorierte es. »Bukarest, die Hauptstadt von Ungarn? Ich würde es nochmal neu ausdrucken. Und was sind das überhaupt für komische Ideen?«
Vicky stopfte die Blätter wütend in ihre Schultasche. »Ich könnte mich besser auf die Schule konzentrieren, wenn ich ausziehen dürfte, wie Elaine. Oder wenn ich ein Moped kriegen würde, damit ich nicht mehr stundenlang durch die Stadt radeln müsste. Aber für mich ist ja alles zu teuer.«
»Und wie war das mit der Todesstrafe?«, sagte Kars.
Sie stand an der Tür, biss die Zähne zusammen. »Fünfundsechzig Prozent der Jugendlichen sind für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Schau mal ein bisschen über den Tellerrand.«
»Hör mal, junge Dame …«
Vicky zog die Tür hinter sich zu. Kars rieb sich über die Stirn. Manchmal fühlte er einen Tumor, dicht unter dem Schädel.
»Sie hat Recht«, sagte Julia.
»Mit der Todesstrafe?«
»Mit der Armut.«
Kars stand auf. »Ich habe Termine.« Er öffnete eine Klappe oben in dem schwedischen Küchenschrank und holte eine Zigarrenkiste heraus. »Ich leihe mir mal eben was aus der Haushaltskasse, okay?«
»Wie war die Lesung?«
»Sie waren begeistert, wollten mich aber partout nicht bar bezahlen, und ich konnte noch keine Rechnungen schreiben.«
»An wen denn alles?«
Kars stellte die Kiste zurück und drückte gegen die Klappe. Der Magnetverschluss funktionierte nicht mehr, und wenn man zu fest drückte, schwang sie wieder auf. Sie schloss nur dann richtig, wenn man sie vorsichtig zumachte. Doch Kars war nur noch selten in der Stimmung für sanftes Zudrücken oder Auf-Eiern-Laufen.
»Jetzt reg dich nicht auf«, sagte er.
»Tue ich nicht.« Sie schwieg zwei Sekunden und sagte dann: »Gestern habe ich Kneshof getroffen.«
»Ah.« Daher die Falte. Kars steckte das Geld in die Innentasche und trat hinaus auf den Holzbalkon. Gärten und Zäune, Sträucher, Gartenhäuschen, Tauben. Als sie das Haus gekauft hatten, erschien ihnen der Balkon wie eine Loge hoch über einem Kaleidoskop von Menschen, die sich ebenso unbeobachtet wähnten wie die Vögel und Katzen, eine sicher umschlossene Stille, als wohne man nicht in einer Stadt, sondern in der Dauervorstellung eines Haanstra-Films. Sie hatten auf dem Balkon Tomaten angepflanzt, eine riesige Fuchsie, Geranien.
Jeden Abend nach dem Abendessen gingen sie spazieren, außer bei starkem Regen, und selbst dann noch, ohne Regenschirm. Man brauchte nur der Straße bis ans Ende zu folgen und auf die andere Seite zu wechseln, schon war man unter den Bäumen entlang der Amstel. Man konnte unter der Utrechtsebrug hindurch und an den Hausbooten entlangschlendern und sich Geschichten über die Bewohner ausdenken, wie sie lebten und was sie dachten, und vor allem über die eigene Reise sinnieren, die sie gerade erst angetreten hatten, bis das Fantasieren ein Ende nahm, die Kinder geboren wurden, die rückwärtigen Fassaden der Nachbarhäuser immer näher rückten und alles kleiner und beengender wurde.
Die Farbe blätterte von dem Holzgeländer ab. Kars hielt sich daran fest. Diese verdammten Möwen waren immer da. Sie flatterten einem dicht über dem Kopf herum und lauerten auf Brot. Er wünschte, er hätte eine Pistole.
»Kneshof«, sagte er. »Da würde jeder nachdenklich werden.«
Er spürte Julia hinter sich. »Er hat mir lediglich die Augen über deinen Weggang von HP geöffnet.«
»Der Mistkerl«, sagte Kars. »Noch ein Jahr und Kneshof wird zu einem Schatten in den Straßen, sie werden ihn zum Archivar machen, ihn dann und wann ein Buch besprechen lassen oder ihm eine Schachtel mit alten Ausschnitten geben, aus denen er einen Artikel über die vor hundert Jahren verstorbene Anna
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