Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
zitterte.
Im Wohnwagen stand eine Kühltasche mit Eis, und auf dem Eis lag Wildfleisch. Das war Mommas Bezahlung: ein klappriger Wohnwagen und eine Portion Hirschfleisch.
Wir zündeten ein Feuer an und brieten das Fleisch. Beim Essen schwiegen wir, weil Momma gequält keuchte und ihre Hände zuckten, als liefen elektrische Schläge hindurch.
Nach dem Essen ging sie zwischen die wogenden Bäume und schrie.
Wer weiß, wie lange wir da draußen im Wald gehaust hätten, wenn die Läuse nicht gekommen wären.
Am dritten Tag begannen unsere Köpfe zu jucken. Am siebten Tag entdeckten wir Läuse noch und nöcher.
Die Läuse gaben Momma den Rest.
Sie hatte keinen Job. Ihre vier Kinder hatten Läuse. Eines war behindert. Sie hatte keinen Mann. Nichts zu essen. Wir hausten in einem Wohnwagen im Wald, für den sie ihre Seele hatte verkaufen müssen, ohne Klo oder fließendes Wasser. Als wir das Fleisch aufgegessen hatten, ernährten wir uns von Beeren. Momma musste Henry Windeln anziehen, weil er seine Blase nicht mehr im Griff hatte.
Eines Nachts fand sie eine Laus in ihrem Mund, und das war es dann. Sie begann zu schreien.
Es gelang uns nicht, sie zu beruhigen.
Bald heulte auch Henry.
Eine Frau, die ein Stück die Straße hinauf eine große Blockhütte besaß, hörte Momma schreien und rief nicht nur die Polizei, sondern kam auch selbst, um uns zu helfen.
Inzwischen hatte sich Henry in eine Hysterie hineingesteigert. Er heulte in den höchsten Tönen und klammerte sich an den Stoffdrachen, den er vollgekotzt hatte. Janie hatte mit geschlossenen Augen den Arm um sich geschlungen und tätschelte Henry in regelmäßigen Abständen. Cecilia trat gegen einen Baum. Ich versuchte jedem zu helfen, während ich mir den Kopf kratzte.
Die Polizisten warfen nur einen verblüfften Blick auf uns, insbesondere auf die dreckigen Kleider und die Blutergüsse in unseren Gesichtern, dann benachrichtigten sie das Jugendamt.
Wir kamen für sechs Wochen zu Pflegeeltern.
Man hätte annehmen können, dass Momma Grandma um Hilfe bat.
Weit gefehlt.
Dann hätte Grandma gewonnen, und es wäre unwiderlegbar bewiesen gewesen, dass ihre Tochter nicht für sich und ihre Familie sorgen konnte. Momma hatte sich geweigert, aufs College zu gehen und eine Ausbildung zu machen, wie Grandma ihr geraten hatte, sie war einfach mit einem Kerl (unserem Dad) durchgebrannt, der ihr davongelaufen war, was konnte Momma da erwarten? Grandma hatte sie gewarnt! Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde! Momma hätte auf sie hören sollen!
Mommas Stolz erlaubte ihr nicht, einer Frau, die sie ihr ganzes Leben lang kritisiert hatte, zu gestehen, dass in ihrem eigenen Leben nicht alles absolut perfekt lief.
Leider bedeutete das für uns, mit Dingen wie Läusen, Wohnwagen und Hunger fertigzuwerden und damit, dass Momma wenige Wochen später ihr Leben wieder mal entglitt.
Als die Läuse und der Hunger verschwunden waren, gefiel es mir gut bei der Pflegemutter.
Janie, Cecilia, Henry und ich waren die einzigen Kinder im Heim von Miss Nancy. Sie besaß ein Haus am Stadtrand mit einem großen Garten und einem Bach hinten auf dem Grundstück, an dem wir spielten. Cecilia und ich teilten uns ein großes gelbes Schlafzimmer, Janie und Henry hatten jeder ein Zimmer für sich.
Miss Nancy nahm uns in die Arme, als wir in ihrem sauberen, fröhlichen Heim eintrafen. Sie besorgte Medikamente für Janies Migräne, Cecilias zahlreiche Ausschläge und Henrys Kränklichkeit und Atemprobleme, kaufte uns neue Kleidung, schickte uns in die Schule, half uns bei den Hausaufgaben und nahm uns in den Arm, wenn wir in Tränen zu ersticken drohten. Wir mussten nicht backen, damit der Strom nicht abgeschaltet wurde.
Miss Nancy legte klassische Musik auf und brachte Janie das Sticken bei.
Sie war Sonntagsschullehrerin, und Cecilia wurde ihre Gehilfin.
Sie meldete mich beim Kirchenchor an, weil sie behauptete, ich hätte die Stimme des schönsten Engels im Chor Gottes.
Sie hatte Hunde und Katzen, und Henry liebte die Tiere, wie sie ihn liebten.
Wie man sieht, hatte Miss Nancy beträchtlichen Einfluss auf unser zukünftiges Erwachsenenleben.
Sie packte uns jeden Abend etwas zu essen ein, das wir mit ins Bett nehmen durften, weil sie wusste, wie panisch wir wegen des Essens waren. »Wenn ihr nachts hungrig werdet, esst das ruhig«, sagte sie zu uns. Cecilia nahm sich das zu Herzen und aß auch meine Ration auf.
Als Momma uns abholen kam, klammerten wir uns schluchzend an Miss
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