Rosas Vermaechtnis
beizukommen, um damit ihre Aufregung zu dämpfen. Denn etwas Derartiges war ihr noch nicht begegnet. Als sie sich etwas beruhigt hatte, war sie in der Lage, die Atmosphäre der Wohnung auf sich wirken zu lassen. Wenn auch die Einrichtung nicht ihrem Geschmack entsprach, es war heimelig hier. Auf dem Schreibtisch lagen Berge von Papier; Alexandra ließ sich auf den Drehstuhl sinken und begann automatisch damit, das Material zu sichten. Es dauerte nicht lange, bis sie bemerkte, dass hinter der augenscheinlichen Unordnung ein System steckte. Rechnungen und Belege alltäglicher Ausgaben lagen auf einem Stapel, wissenschaftliche Artikel, die Hafner im Bereich seiner Forschungsarbeit gesammelt hatte, auf der anderen. Der größte Stapel in der Mitte jedoch bestand aus Unterlagen, in denen von Kulinarischem die Rede war. Anscheinend hatte der Professor ein Faible für außergewöhnliche Rezepte gehabt – Alexandra hob erstaunt die Augenbrauen – und er war ein Sammler von Restaurantkritiken gewesen. Alle »guten« Restaurants eines bestimmten Levels im Umkreis von ungefähr 50 Kilometern, ob neu eröffnet oder solche, die bereits über einen guten Ruf verfügten, waren besprochen worden. Einige dieser Lokale orderten ihre Weine bei ihr, sodass ihr sowohl der äußere Rahmen als auch die Speisen vertraut waren, zwei der wichtigsten Faktoren, die in eine gute Beratung einfließen mussten. Aber was interessierte das alles den Professor? Sie schloss die Augen und ließ ihrem Gespür freien Lauf. In ihrer Vorstellung sah sie Balduin Hafner in der »Ente«, einem bekannten Sternerestaurant, sitzen und bei einem Aperitif voller Vorfreude auf sein ausgefallenes Menü warten. Sie sah seine Augen glitzern, als die Vorspeise, die einem kunstvollen Stillleben entsprach, ein Arrangement aus Salatsorten und Edelfischhäppchen, vor ihm stand und er lustvoll nach Messer und Gabel griff. Balduin Hafner war ein Genießer gewesen, dessen war sie sich jetzt sicher. Als Alexandra die Augen wieder öffnete, schwante ihr, dass der Professor sich vielleicht wirklich nicht zufällig auf ihrem Grundstück aufgehalten hatte. Es war der Abend der Weinprobe gewesen, und es bestand die Möglichkeit, dass er spontan daran teilnehmen wollte, durch irgendetwas aufgehalten wurde und schließlich seinem Mörder begegnet war. Aufmerksam blätterte sie den mittleren Stapel noch einmal durch, bis sie auf ihre eigene Weinpreisliste stieß und sie verwundert betrachtete. Alexandras Gedanken überschlugen sich. Das also war der Beweis – Hafner war tatsächlich nicht zufällig da gewesen. Sie musste Jan davon erzählen. Der Vollständigkeit halber sichtete sie die Papiere bis zum Ende durch und hielt wenig später ein zweites Mal erstaunt inne. Vor ihr lag eine sorgfältig ausgeschnittene alte Immobilienanzeige mit Foto. Das Bild zeigte ihren Weinhof, so wie er damals zum Verkauf angeboten worden war. Eine Bemerkung stand, in verlaufener Tinte geschrieben, auf dem Rand des Bildes. Alexandra versuchte mühevoll, es zu entziffern, die Schrift war fast unleserlich. Kurz entschlossen klappte sie ihre schwarze Handtasche auf und steckte die Anzeige hinein. Vielleicht konnte Marie das Wort entziffern oder sie bekam es mithilfe einer Lupe heraus. Auf jeden Fall schien der Professor sich ebenfalls für das Anwesen interessiert zu haben. Und auch hier stellte sich die Frage nach dem Warum.
Jan Berger staunte nicht schlecht, als Alexandra ihm am nächsten Morgen von ihren Ermittlungserkenntnissen berichtete.
»Also gab es tatsächlich eine Verbindung zu euch! Irgendwie glaube ich nicht, dass es ihm dabei nur um eine Weinbestellung ging, sonst hätte er die Anzeige nicht ausgeschnitten. Vielleicht wollte er euren Hof auch kaufen.«
»Genau – ich werde die Maklerin noch einmal fragen, vielleicht kann sie mir sagen, wer sich noch für den Hof interessiert hat.«
»Habt ihr das Wort denn inzwischen entziffern können?«, erkundigte er sich, nachdem Alexandra ihm alles haarklein berichtet hatte.
»Marie meint, es könnte ›recherchieren‹ bedeuten, was ja auch Sinn machen könnte, wenn er beabsichtigte, das Anwesen zu kaufen. Was das angeht, werde ich jedenfalls am Ball bleiben.«
Marie war von beiden Frauen immer die praktischere, bodenständigere und auch optimistischere gewesen. Obwohl das Leben nicht immer sanft mit ihr umgegangen war, hatte sie sich ihre positive Einstellung erhalten, was Alexandra, die ihrerseits zu nutzloser Grübelei neigte,
Weitere Kostenlose Bücher