Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
starrten sie sich noch an, dann verließ Mary Rose den Laden. Cole und Douglas beobachteten sie, an den Wagen gelehnt, resigniert und geduldig. Im Lauf der Jahre hatten sie sich an die Trödelei ihrer Schwester gewöhnt. Sie schenkte ihnen ein Lächeln, bevor sie sich zu Harrison umdrehte, der ihr auf den Gehsteig gefolgt war.
Aufmerksam musterte er Douglas, und sie beschloss, ihm ihren zweiten Bruder erst später vorzustellen – nachdem sie dem naiven Neuankömmling ihre Pläne für seine unmittelbare Zukunft erklärt hatte. Irgendwie musste sie ihm helfen. Er sah so einsam und verloren aus. »Ich bring’s einfach nicht übers Herz, Sie Ihrem Schicksal zu überlassen.«
»Wie bitte?«, fragte er verdutzt.
Rasch warf sie einen Blick über die Schulter, bemerkte die missbilligenden Mienen ihrer Brüder und lächelte noch einmal, um sie zu beschwichtigen. Dann nahm sie Harrisons Arm und führte ihn auf die Straße. »Wenn ich nichts unternehme, geraten Sie sicher in ernsthafte Schwierigkeiten.«
»Warum glauben Sie das?«
»Soeben haben Sie zugegeben, dass Sie nicht wissen, wie Sie sich verteidigen sollen. Ganz sicher haben das mehrere Kunden im Laden gehört. Und es wird sich herumsprechen. So ungern ich das auch zugebe – in dieser schönen Stadt laufen ein paar gemeine Kerle herum. Sobald sie hören, wie hilflos Sie sind, werden sie Ihnen die Hölle heiß machen.«
»Und Sie bezweifeln, dass ich mich verteidigen kann?«
Nur widerstrebend verletzte sie seine Gefühle, aber um ihn zu retten, musste sie die Wahrheit sagen. »Allerdings, das bezweifle ich.«
Obwohl sich die Dinge planmäßig entwickelten, kränkte Mary Rose seinen Stolz. Dass sie ihn für einen Schwächling hielt, war keineswegs erfreulich. »Madam, ich habe keineswegs behauptet, ich könne nicht auf mich selber aufpassen.«
Doch sie tat so, als hätte sie seinen Protest nicht gehört. »Am besten kommen Sie mit mir nach Hause.«
Mühsam verbarg er seine Freude. »Das ist keine gute Idee. Erst einmal muss ich mich an meine neue Waffe gewöhnen. Dafür habe ich eine ganze Menge bezahlt. Sicher ist es ein gutes Schießeisen.«
»Darum geht es jetzt nicht. Bitte, verstehen Sie mich doch! Sie sind ein großer Mann, und wenn Sie hier bleiben, geben Sie eine wunderbare Zielscheibe ab. Von allen Fremden, die nach Blue Belle kommen, erwartet man, dass sie sich selbst und ihren Besitz verteidigen. Da Sie offenbar nicht wissen, wie Sie Ihren Revolver und Ihre Fäuste gebrauchen sollen, werden Sie das Ende dieser Woche wohl kaum überleben. Also kommen Sie mit mir. Meine Brüder werden Ihnen gern alles beibringen, was Sie unbedingt wissen müssen: Immerhin haben Sie Coles Leben gerettet. Um sich zu revanchieren, wird er Ihnen sicher Schießunterricht geben.«
Bevor Harrison antwortete, musste er tief Atem holen. Gewiss, er wollte naiv wirken, aber nicht wie ein Vollidiot. »Oh, ich habe meine Fäuste schon öfter benutzt, und ich denke …«
Mitleidig fiel sie ihm ins Wort. »Denken und tun – das sind zweierlei Dinge. Überschätzen Sie Ihre Fähigkeiten nicht! Das könnte gefährlich werden. Waren Sie schon einmal in eine Schießerei verwickelt?«
»Nein«, musste er zugeben.
»Da sehen Sie’s.«
»Haben sich alle Bewohner von Blue Belle schon in Schießereien eingelassen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Warum fragen Sie dann, ob mir das schon einmal passiert ist?«
»Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass die meisten Männer im Laden keine Waffen tragen. Ein Revolver verkündet eine ganz bestimmte Botschaft. Und wenn Sie einen mit sich herumschleppen, wird man von Ihnen den Beweis verlangen, dass Sie auch damit umgehen können. Aber ich finde, man sollte ein Schießeisen nur benutzen, um zu jagen, um Schlangen und dergleichen zu töten – aber keine Menschen. Unglücklicherweise kennen manche Leute, die hier leben, diesen Unterschied nicht.«
»Ihr Bruder trägt auch eine Waffe.«
»Das ist was anderes. Cole bleibt nichts anderes übrig, aber Ihnen schon. Immer wieder versuchen irgendwelche Revolverschwinger, die sich mit Ruhm bekleckern wollen, meinen Bruder herauszufordern. Sie glauben, sie wären schneller als er. Und diese Arroganz bringt sie ins Grab, wenn sie auch nicht von Coles Hand sterben. Schon jahrelang hat er niemanden mehr umgebracht. Aber er muss eine Waffe tragen, um sich zu schützen.«
»Ich verstehe.«
»Und er hat nur so gut schießen gelernt, um uns alle zu verteidigen. Auch Sie müssen ein erstklassiger Schütze
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