Rosen für Apoll
blieben und niemals den Begriff »Sünde« kannten. Ihre Sprache hatte nicht einmal ein Wort dafür.
Homer war es, der jenes Wunder vollbrachte, das alle anderen Religionen so gerne vollbringen möchten: den Menschen zum Ebenbild Gottes zu machen. Die Griechen waren das einzige Volk, das in diesem unsagbar stolzen Bewußtsein leben durfte. Als Homer (ein einzelner, einsamer Mann in Smyrna, ein Schriftsteller, ein Sänger) ihnen diesen Glauben stiftete, vollbrachte er eine geistige Tat, die so seltsam, so merkwürdig und zugleich so gewaltig ist, daß er, wenn er es bewußt getan hat, das Herz eines Erlösers gehabt haben muß. Er hat die Frage nach dem Sinn der Schöpfung, unseren heutigen furchtbaren, nagenden Zweifel, für die Griechen aus der Welt geschaßt! Merken Sie wohl auf: Er hat die Frage nicht etwa beantwortet, er hat sie verhindert, er hat sie mit der Wurzel ausgerissen. Seine Götter — sie mögen oft rachsüchtig, ärgerlich, zänkisch sein — seine Götter haben die Menschen nicht geschaffen, um sie in quälerische »Versuchung« und sinnlose »Erbsünde« zu stoßen. Sie gönnen ihnen das gleiche Leben wie sich selbst. Homers Götter sind mächtig und unsterblich — nur dies unterscheidet sie von den Menschen, sonst nichts. Denn das »Gesetz der Welt« liegt nicht in den Göttern, auch nicht in Zeus; es liegt als Kraftfeld unsichtbar mitten unter ihnen. Es liegt in keiner Hand, es ist die Summe, der Schwerpunkt, um den sie sich alle drehen, die Menschen im Wirbel, die Unsterblichen in langsamer Gravität.
Homer war es, der dem klassischen Griechenland die Begriffe Gut und Böse gegeben hat; aber nicht als Ethik, sondern als Ästhetik! Sehen Sie die Kühnheit dieses Schrittes? Das Strahlende dieser Idee? Das Unerhörte des Maßstabes? Die Götter zu verehren ist nicht »fromm« — es ist klug. Das Gute ist nicht »moralisch« — es ist schön. Die Wahrheit ist schön, die Treue ist schön, die Tapferkeit ist schön, die Aufrichtigkeit ist schön, die Gerechtigkeit ist schön, alles das ist voller Schönheit, voller Eleganz, voller Harmonie, voller Kunst. Mord, Diebstahl, Betrug sind häßlich, unästhetisch, Stückwerk, Disharmonie, Abwesenheit von Schönheit, verlorene, entgangene Genüsse.
Verlogen — ehrlich, treulos — aufopfernd, faul — ehrgeizig, zänkisch — tolerant, das war eine Frage der Wahl, der Ästhetik, des Schönheitssinns, der persönlichen Kultur, des Feinschmeckertums. Kein anderes Volk hat soviel gelogen wie die Griechen; sie trugen es nicht als Sünde, sie trugen es wie schmutzige Fingernägel.
Jetzt wird auch klar, wie sich die Dinge einmal überraschend verkehren können: Die gigantischen Lügen des Odysseus gegenüber Polyphem zum Beispiel können herrliche Kunstwerke sein, Leistungen von höchster Schönheit verglichen mit dem plumpen und unästhetischen Belogenen, und Homer ist nur konsequent, wenn er Athene bewundernd ausrufen läßt, dies zu übertreffen würde selbst Göttern schwerfallen!
Das ist ein Wort, wofür ihr jeder Grieche Rosen zu Füßen gelegt hätte.
Homer hat den Griechen die Qual der »Letzten Fragen« erspart. Erst in der späteren Zeit wurde ihre Religion komplizierter, dunkler, mystischer.
Eine Qual aber hat ihnen Homer nicht ersparen und abnehmen können: die Unabwendbarkeit und Endgültigkeit des Todes. Der Gedanke an die Sterblichkeit war die wahre Tragik der griechischen Seele. Sie haben die Götter glühend beneidet. Dafür hat ihnen dann Homer einen Triumph über sie gegeben, einen entschädigenden Gedanken von einmaliger Tröstlichkeit und Weisheit: Götter haben kein Schicksal — Und da können sie einem ja wohl wirklich leid tun!
Das also war die »dunkle« Zeit nach der Jahrtausendwende. Das Mysterium der Verwandlung war in vollem Gange. Ilias und Odyssee flogen als Gesänge über alle Länder, wo Griechen wohnten. Zum erstenmal fühlte man, daß man ein Blut, eine Geschichte und einen Himmel hatte, zum erstenmal fühlte man sich als »Volk«, und zum erstenmal sprach man eine gemeinsame Sprache. Das Ionisch von Smyrna, das Homer sprach, wurde das klassische Griechisch, wie Luthers Sächsisch das klassische Deutsch wurde. Und um diese Zeit geschah es auch, daß der Name »Hellenen« auftauchte, eigentlich die Bezeichnung eines winzig kleinen Stammes um das alte Heiligtum Dodona. Auch dieses Wort fand plötzlich den Weg in alle Herzen.
Die griechische Schrift, dieses erste Wunderwerk an Vokalen, wurde erfunden. Es war die Tat
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