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Rosen für Apoll

Rosen für Apoll

Titel: Rosen für Apoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Fernau
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ehrfürchtigen Blick zurück. Der Mann am Tor betätigt nun den bronzenen Klopfer, während er mit krauser Nase den Duft von würzig gekochten Aalen einsaugt und auf einen Klang horcht, der aus dem Mageireion, der Küche seines Hauses, kommt und den er liebt: Eine Sklavin schlägt Schlagsahne. Dann öffnet man die Tür; nicht der Diener ist es wie sonst, sondern die Herrin des Hauses selbst, und sie sagt: »Grüß dich, Solon!«
    Sie glauben es nicht? Ich ahnte es. Ich hätte sagen müssen: »Bei Zeus! Du bist es? Tritt ein, o Solon, mein Gemahl!« denn, so haben Sie gelernt, die alten Griechen waren klassisch, und klassisch ist getragen, hoheitsvoll, fremdartig, priesterlich, denkmalshaft.
    Ich weiß nicht, wer diese irrsinnige Meinung zum erstenmal aufgebracht hat; anscheinend waren sich alle einig. Seit Goethes »Iphigenie«, seit Winckelmann und seit dem Auffinden der griechischen Plastiken hat man die Menschen des alten Hellas zu überirdischen Wesen gemacht, denen die Banalitäten des Alltags offenbar gänzlich unbekannt waren. Da gibt es niemanden, der niest, niemand hat einen hohlen Zahn, niemand juckt sich, niemand ist häßlich, oder wenn doch, dann ist diese Tatsache eine solche Sensation wie bei Sokrates; kein Schuster flucht; kein Bäcker schwitzt; man ißt nicht, man schmaust; man geht nicht, man schreitet; man schnarcht nicht, man ruht; nie ist ein Kamin verstopft, nie zählt jemand sein Kleingeld, nie bekommt jemand eine Ohrfeige. Alle wohnen zwischen Säulen, entzünden Feuer oder tragen als Selbstzweck Dramenrollen in der Hand, und abends sitzen sie wie Feuerbachs »Medea« am Meer und überwinden eine große Blutschuld.
    Wie konnte man Griechenland so mißverstehen! Was hatte man von diesem gespenstischen, versteinerten Wunderland? Wie konnte man vergessen, daß Goethes »Iphigenie« die Dichtung eines Mannes war, der längst nicht mehr, wie einst in seiner Jugendzeit, die Welt der Wirklichkeit zeigen wollte, sondern eine verklärte Welt? Wie konnte man die Hymne »Iphigenie« für ein Abbild des griechischen Alltags halten? Wie kam man nur auf den Gedanken, in Praxiteles einen Photographen und in seinen Gestalten die Norm jener Menschen zu sehen? Wie konnte man aus jedem Kleiderfetzen, aus dem simplen Chiton-Hemd, aus dem harmlosen kleinen Mantel oder dem einfachen rechteckigen Himation-Tuch ein geheimnisvolles Kunstwerk machen? Wie konnte man in dem spaßigen, friedlichen Symposion ein olympisches Gelage sehen? Wer übersetzte den alten griechischen Gruß Χαίρε mit »O freue dich«? Das ist wahrhaft bodenlos; er heißt »Grüß dich« und »Guten Tag«.
    Aber, meine Freunde, werden Sie es vertragen, daß ich Ihnen das klassische Hellas so profaniere? Ich kann Ihnen als Ersatz dafür nicht mehr bieten, als die totäugigen Marmorbüsten zum Leben zu erwecken. Ich will dem Marmor die Farben zurückgeben, mit denen er einst wirklich bemalt war.
    Solon, meine Freunde, war also ein Mensch aus Fleisch und Blut, der Knabe mit dem Korb war aus Fleisch und Blut, die Wiesel waren die Hauskatzen Athens, und Schlagsahne hieß άϕρόγαλα, Schaumblasenmilch. Die Bauern brachten die Milch morgens auf ihren Karren nach Athen, man konnte die braungebrannten Gestalten schon an ihrer obligatorischen Kleidung erkennen, an dem dürftigen Lendenschurz und dem Fell, das sie als »vom Lande« kennzeichnen sollte; die Bauern und Fuhrknechte waren auch die einzigen, die immer und ewig ihre speckige Filzkappe auf dem Kopf hatten.
    So sah man sie mit Sonnenaufgang von den Gehöften aufbrechen, im Magen nichts als etwas Brot, in Wein getaucht, im Mund unter der Zunge einen kupfernen Obolos, den Notgroschen »für alle Fälle«, und im Herzen Sorge, denn die Zeit war schwer. Auf den Feldern, wo der Weizen unter Weinreben und Feigenbäumen sich mühsam durch die ausgetrocknete, brüchige Erde zwängte, standen oft, so weit das Auge reichte, steinerne Tafeln, die »Schuldsteine«, und sie vermehrten sich von Jahr zu Jahr; bald würden die Bauern ihr Land ganz los und die athenischen Patrizier die Herren Attikas sein. Die Stadt zahlte Schleuderpreise, im Hafen lagen die Handelsschiffe dicht an dicht am Kai und schütteten, was das Ausland anbot, in die Stadt, die Bauern kamen nicht nach, die Hypotheken kosteten zwölf Prozent und machten, wenn sie Haus und Hof geschluckt hatten, auch vor den Menschen nicht halt: Der Gläubiger konnte sie zu Sklaven machen — ein Wort, das viele Bauern nicht mehr schreckte. Sklaven

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