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Rosen für Apoll

Rosen für Apoll

Titel: Rosen für Apoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Fernau
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Vergangene Religionen aber sind wie eine Handvoll Seegras und etwas Stoff: Das ist alles, was von der Puppe übriggeblieben ist.
    Daher muß ich vor allem die landläufige Vorstellung von der delphischen Pythia als Figur des Aberglaubens und des Hokuspokus zerstören.
    Die Orakel lassen sich zurückverfolgen bis ins achte Jahrhundert; sie sind es gewesen, die dem Apollon-Heiligtum in Delphi zur panhellenischen Bedeutung verhalfen. Um 590, zur Zeit Solons also, entbrannten um die Herrschaft über Delphi schwere Machtkämpfe, aus denen als unerwarteter Sieger Delphi selbst hervorging. Es erzwang die Anerkennung der ewigen Unabhängigkeit und Immunität.
    Delphi wuchs sich zu einer mittleren, feierlichen, langweiligen Stadt aus. So wie heute jeder vorsorgliche Mensch ein Bankkonto in der Schweiz oder sein Häuschen im Tessin hat, so standen dort die »Schatzhäuser« der griechischen Städte. Halb Delphi rekrutierte sich daraus. Da bewahrte man die Weihgaben auf, die Dankgeschenke und Siegestrophäen: Athens über Theben, Thebens über Athen, Korinths über Argos, Argos’ über Korinth, alles nebeneinander; Jakob Burckhardt hat die Stadt ein »Museum des Hasses« genannt.
    Die Weissagungen nun, die Delphi so große Bedeutung gaben, kamen auf eine komplizierte Weise zustande. Das Heiligtum des Apoll lag dicht unter den Felswänden des Parnaß, sein Mittelpunkt über einem kleinen vulkanischen Erdloch, aus dem ständig ein kalter, gasiger Luftstrom aufstieg. Darüber befand sich der eherne Dreifuß, auf dem bei den Befragungen des Gottes die auserwählte Priesterin, die ewige »Pythia«, Platz nahm. In der Benommenheit der Sinne gab sie dann Wörter oder ganze Sätze von sich, von denen aber nichts überliefert ist. Sie werden sich selten oder nie auf die gestellte Frage bezogen haben; es hat auch kein Außenstehender sie je erfahren. Vielmehr war es so: Das Trance-Gestammel hörten sich die Apollon-Priester an und zogen sich zur »Deutung« zurück. Sie faßten es — wie es sich für Apoll geziemt — in ein erlesenes Griechisch, und dann erst verkündeten sie es als Orakel des Gottes.
    Fast alle Fragen waren Schicksalsfragen. Mag sein, daß in frühester Zeit auch andere belanglose, neugierige gestellt wurden; seit langem aber nicht mehr. Es ging um große Dinge. Man darf sich auch nicht vorstellen, daß Athen etwa fragte: »Werden die Perser siegen oder wir?« Das ist die Fragestellung eines modernen Menschen, eines Menschen mit Beruhigungsgier. Die Griechen — und zu dieser Ethik hatte Delphi sie erzogen — hätten das für eine Beleidigung des Gottes gehalten. Und es ist auch eine! Die Griechen fragten: »Was sollen wir tun? Wir bitten Apoll, der doch die Stimmung im Olymp kennt und vielleicht auch schon weiß, ob Zeus einen Entschluß gefaßt hat — wir bitten Apoll um einen Rat, um einen Fingerzeig.«
    Die bewundernswerte Leistung vollbrachte nicht die Pythia, die bewundernswerte Leistung vollbrachten die Deutungspriester. Das Orakel, das sie herausgaben, war ihr diplomatisches Bulletin. Wir kennen zahlreiche Orakel im genauen Wortlaut, ich werde Ihnen nachher eines vorführen: Es ist ganz ausgeschlossen, daß das Gestammel der Pythia auch nur den geringsten Einfluß gehabt hat oder daß es unter den Priestern echte Mystiker gab. Dieses Kollegium war ein Kabinett von politischen Beobachtern, ein Gremium von Fachleuten der Weltpolitik und Meistern der Psychologie, gegen das ein vatikanisches Kardinalskollegium nur ein blasser Schatten ist. Und wenn man die Summe aller delphischen Orakelsprüche zieht, so kann man den Apollon-Priestern die Hochachtung für eine gewisse Neutralität, eine gewisse Gerechtigkeit, einen Willen zum Helfen und eine gewisse Sauberkeit der Anschauungen nicht versagen. Sie ließen sich die Sauberkeit bezahlen, natürlich! Aber: Welch ein Jahrhundert, in dem aus passiver Bestechung Sauberkeit statt Schmutz herauskommt!
    Freilich gab es Ausnahmen — eben Ausnahmen. Ganz unbestritten jedoch ist ihre Klugheit. Sie haben mit ihren Orakeleien oft hohe Politik gemacht.
    Nun also standen die Apollon-Priester vor einer Aufgabe, so heikel wie nie zuvor. Fast alle Städte, bis nach Kreta hinunter, wandten sich in jenem Winter 481/80 an Delphi um Rat.
    Die Priester scheinen durch die Nachrichten aus Kleinasien ebenso beeindruckt gewesen zu sein wie alle anderen Griechen. Jedenfalls war ihre Sprache nie zuvor so erregt und scharf, ihre Antwort nie so spontan. Sie rieten, obwohl niemals deutlich, zur

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