Rosendorn
wussten, auch dann noch ein Ziel sein würde, wenn ich aus Avalon verschwand. Und da Grace außerdem meinen Pass hatte, war es sowieso ziemlich unwahrscheinlich, dass ich die Stadt in absehbarer Zeit verlassen würde.
Tränen brannten in meinen Augen. Warum konnte meine Mutter nicht einfach eine ganz normale Mom sein? Warum konnte sie nicht an einem dieser doofen Zwölf-Punkte-Programme teilnehmen und trocken werden? Sie hatte es nicht einmal
probiert.
Wenn sie wenigstens mal versucht hätte, mit dem Trinken aufzuhören, hätte ich es möglicherweise niemals so sattgehabt, dass ich tatsächlich abhaute. Dann wäre das alles wahrscheinlich nicht passiert. Ich wollte ja nicht, dass sie perfekt war, ich wollte nur, dass sie nüchtern war. War das denn zu viel verlangt?
Ich schniefte und wischte mir dann entschlossen die Tränen aus den Augen. Wenn ich in meinem Leben eines gelernt hatte, dann, dass Tränen mich auch nicht weiterbrachten. Ich war diejenige gewesen, die immer einen kühlen Kopf hatte bewahren müssen, wenn meine Mom ihren täglichen hysterischen Anfall bekam. Ich war inzwischen sehr gut darin, meine eigenen Gefühle beiseitezuschieben, um mich später damit auseinanderzusetzen. Und das tat ich auch jetzt. Es war schwieriger als sonst, aber irgendwann gelang es mir, mich wieder zusammenzureißen.
Ethan war weg, als ich schließlich aus meinem Unterschlupf gekrochen kam. Kimber hantierte in der Küche, und ich ging in Richtung der Geräusche. Ich konnte riechen, dass sie etwas kochte. Zuerst dachte ich, der Geruch würde mich an Reis erinnern, doch dann erkannte ich meinen Irrtum. Mein Magen, der seinen kläglichen Inhalt komplett entleert hatte, war auf jeden Fall der Meinung, dass es ziemlich gut duftete – was auch immer es war.
Als ich die Küche betrat, drückte Kimber gerade etwas in der Farbe von Leim und der Konsistenz von Erbrochenem durch ein Sieb. Plötzlich roch es doch nicht mehr so gut. Eine dickflüssige, weißliche Brühe tropfte durch das Sieb in einen kleinen Topf auf dem Herd. Nachdem sie jeden Tropfen der Flüssigkeit durch das Sieb gepresst hatte, warf sie die Überreste in den Müll.
»Fast fertig«, sagte sie hochkonzentriert, ohne mich anzusehen. Dampf schlug ihr ins Gesicht, Schweißtropfen glänzten auf ihrer Haut. Was auch immer sie da machte – es war eine schweißtreibende Angelegenheit.
»Ich wage es kaum zu fragen«, entgegnete ich, »aber
was
ist fast fertig?«
Sie gab einen großen Klecks Honig in den Topf und rührte um. Dann schaltete sie den Herd an, und kleine bläuliche Flammen züngelten am Boden des Topfes.
»Dein heißer Punsch«, sagte sie, griff in den Schrank über der Spüle und holte eine Flasche mit einer Flüssigkeit heraus, die diese unverwechselbare bernsteingelbe Farbe von Alkohol hatte.
»Was ist denn dieser heiße Punsch?«, fragte ich und beobachtete, wie sie einen guten Schuss – ich kniff die Augen zusammen und entzifferte das Etikett der Flasche – Whisky in den Topf gab.
»Den gibt man jemandem, wenn er erkältet ist. Oder Kopfschmerzen hat. Oder einen echt schlechten Tag hatte. Oder nicht schlafen kann. Oder …«
»Okay, kapiert. Ein Allheilmittel. Aber eigentlich bin ich zu jung, um Alkohol zu trinken.«
Sie lachte und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. »Vor dem Gesetz bin ich das auch. Das hindert mich allerdings nicht daran, es trotzdem zu tun. Ich habe meinen ersten heißen Punsch getrunken, als ich fünf Jahre alt war. Und du bist doch älter als fünf, oder?«
Ich schnüffelte und versuchte, den Duft zu deuten, doch das Einzige, was ich erkennen konnte, war der Geruch von Whisky. »Aber was genau ist da drin? Ich meine, außer genügend Schnaps, um mich komplett auszuknocken?«
Sie zuckte mit den Schultern und rührte den Punsch um, der fröhlich vor sich hin dampfte. »Milch. Haferflocken. Honig. Ein bisschen Muskat. Und der gute irische Whisky natürlich.«
Igitt! Haferflocken? Wer gibt Haferflocken in ein
Getränk?
Ich fragte mich, wie ich mich davor drücken konnte, das Zeug zu trinken, ohne total unhöflich zu sein.
Kimber schaltete den Herd aus, holte zwei Becher aus einem Schrank und füllte jeden bis zum Rand mit der dickflüssigen, milchigen Brühe. Ich bin mir sicher, dass ich das Gesicht verzog, doch das schien Kimber nicht zu entmutigen. Sie hielt mir einen der Becher entgegen, und aus einem Impuls heraus ergriff ich ihn. Schweigend stand ich da, starrte ihn an und fragte mich, ob
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