Rosendorn
waren die Einwohner von Avalon nicht so britisch, wie ich es erwartet hätte, doch ihren Tee schienen sie zu lieben.
Er hatte schon zwei Tassen gefüllt. Am Boden schwammen wieder die verräterischen kleinen Teeblätter, die bewiesen, dass er nicht im Traum daran dachte, Teebeutel zu benutzen. Ich fühlte mich so elend, dass der Tee mir reizvoller erschien als sonst. Nachdem ich zwei Stück Zucker in meine Tasse geworfen hatte, rührte ich abwesend um.
»War das Ethan?«, fragte ich, denn wenn ich so über die halbe Unterhaltung nachdachte, die ich mit angehört hatte, ergab sie nur einen Sinn, wenn Ethan am anderen Ende gewesen war.
»Ja«, entgegnete mein Vater. »Er hat angerufen, um sich zu erkundigen, ob du sicher nach Hause gekommen bist.« Sein Lächeln wirkte mit einem Mal bitter. »Und um herauszufinden, ob ich dir erzählt habe, wer er ist, natürlich. Ging ich recht in der Annahme, dass du nicht mit ihm sprechen wolltest?«
Ich nickte und hörte endlich auf, meinen Tee umzurühren. Der Zucker hatte sich längst aufgelöst. »Hättest du mich denn mit ihm sprechen lassen, wenn ich es gewollt hätte?«
Überrascht hob er die Augenbrauen. »Selbstverständlich. Ich mag ihn nicht besonders, und seinen Vater mag ich noch weniger, aber ich werde dir nicht vorschreiben, mit wem du reden darfst und mit wem nicht.«
Ich legte den Kopf schräg. Bisher kam er mir nicht sehr väterlich vor. »Es gibt viele Väter, die ihre sechzehnjährige Tochter nicht mit einem Typ sprechen lassen würden, den sie nicht mögen.«
Er stellte seine Teetasse ab und wandte sich zu mir. Seine Miene wirkte ernst. »Du bist kein Kind mehr, und ich werde mich bemühen, dich nicht wie eines zu behandeln«, erklärte er.
Ich hätte beinahe mit ihm gestritten. In meinem Alter verbrachte ich den Großteil der Zeit damit, Leute davon zu überzeugen, dass ich
kein
Kind war, doch im Augenblick wünschte ich mir nichts sehnlicher, als genau das zu sein. Ich wollte, dass sich jemand um mich kümmerte, ich wollte die Verantwortung abgeben, und ich wollte, dass jemand anders alle schwierigen Entscheidungen traf.
Wenn es das ist, was du wirklich willst, flüsterte die kleine Stimme in meinem Kopf, hättest du auch bei Tante Grace bleiben können – denn dann hättest du überhaupt keine Entscheidungen mehr treffen müssen.
»Möchtest du mich irgendetwas fragen?«, wollte Dad wissen. »Avalon neigt dazu, schon den durchschnittlichen Touristen zu überwältigen; es fällt mir schwer, mir vorzustellen, was
dir
– nach allem, was passiert ist – durch den Kopf gehen muss.«
Das Stadium »überwältigt« hatte ich längst hinter mir gelassen. Aber trotz des Aufruhrs in meinem Innern hatte ich tatsächlich ein paar Fragen. Vor allem folgende: »Was soll Tante Grace und Ethan davon abhalten, mich wieder zu entführen?«
»Meine Mittel, das zu verhindern, sind beträchtlich«, erwiderte er. »In diesem Haus wirst du immer in Sicherheit sein. Weder Grace noch Ethan sind mächtig genug, um die Bannsprüche zu überwinden, mit denen ich das Haus belegt habe.«
»Was ist mit Lachlan?«
Dad winkte ab. »Lachlan ist kein Thema. Er mag ein körperlich beeindruckendes Exemplar sein, und ich möchte ihm im direkten Kampf nicht gegenüberstehen, doch es braucht etwas Anspruchsvolleres als brutale Kraft, um meine Verteidigung zu durchbrechen.« In seiner Stimme schwang ein Hauch von Verachtung mit, den ich nicht verstehen konnte.
»Aber er gehört doch auch zum Feenvolk, oder? Auch wenn er nicht so aussieht?«
Dad rümpfte zwar nicht die Nase, doch es fehlte nicht viel. »Er ist eine Kreatur aus Faerie, aber er steht in der Ordnung weit unten. Seiner Art ist der dauerhafte Aufenthalt in Avalon üblicherweise nicht erlaubt, doch da Grace für ihn eintritt …«
Offensichtlich war Dad ein Snob. Lachlan war vielleicht mein Gefängniswärter gewesen, aber er war trotzdem eine der nettesten Personen, die ich in Avalon kennengelernt hatte. Ich fühlte mich durch Dads Haltung beinahe ein bisschen angegriffen. Dad sah mir das offenbar an, denn er tauschte seine hochnäsige Miene gegen einen Ausdruck reuevoller Belustigung.
»Wir sind eben ein ziemlich klassenbewusster Haufen, wir Feen«, sagte er. Die Belustigung schwand. »Du musst wissen, dass die Feen immer noch Feen sind, auch wenn Avalon sich offiziell von Faerie gelöst hat. Wir erkennen einander als Mitglieder des Sommer- oder Winterhofes an, obwohl wir den Höfen eigentlich keine
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