Rosendorn
Mutter.
»Hier bei Hathaway. Kann ich Ihnen helfen?«, sagte die Frau, als würde ich in einer Firma anrufen.
Mein Herz machte einen unangenehmen dumpfen Schlag in meiner Brust. O mein Gott! Was bedeutete es, dass meine Mom nicht selbst an den Apparat ging? Stimmte etwas nicht mit ihr? War sie verletzt? Krank? Tot?
Mein gesamter Körper war angespannt, und ich brachte kaum ein Flüstern heraus, weil meine Kehle wie zugeschnürt war. »Wo ist meine Mom? Geht’s ihr gut?«
Oh, bitte, bitte, mach, dass es ihr gutgeht!
Ich hätte es nicht ertragen können, dass ihr etwas passierte, weil ich von zu Hause weggelaufen war.
»Dana?«, fragte die Frau. Ich erkannte ihre Stimme noch immer nicht.
»Ja.«
»Hier ist Frances, eure Nachbarin?«
Jetzt dämmerte es mir. Frances, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, meine Mom von oben herab zu behandeln, und bei der alles, was sie sagte, wie eine Frage klang.
»Warum gehen Sie bei uns ans Telefon?«, wollte ich wissen. »Wo steckt meine Mutter?«
»Mach dir keine Sorgen, Dana, Liebes. Deiner Mutter geht es gut. Du hast ihr einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das?«
Das Letzte, worauf ich im Augenblick Lust hatte, war ein Vortrag von unserer neugierigen, unverfrorenen Nachbarin. Am liebsten hätte ich sie durch den Hörer hindurch geschüttelt.
»Bitte, sagen Sie mir, wo sie ist«, flehte ich und klang anscheinend so jämmerlich, dass Frances beschloss, ihre kleine Belehrung abzubrechen.
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie im Augenblick irgendwo über dem Atlantik ist.«
»Was?«
»Sie ist unterwegs nach Avalon, um dich zu suchen. Ich gieße die Blumen, solange sie weg ist.«
Meine Gedanken überschlugen sich – allerdings nicht so schlimm, dass mir nicht der Verdacht gekommen wäre, dass Frances nur bei uns zu Hause war, um zu schnüffeln. Wenn Mom tatsächlich im Flieger saß, war sie erst ein paar Stunden weg, und die Pflanzen brauchten wohl kaum schon Wasser.
»Mom ist unterwegs nach Avalon«, wiederholte ich, obwohl ich wusste, dass ich richtig gehört hatte.
»Ja. Sie wird morgen da sein. Sie macht sich große Sorgen um dich, Süße.«
Bäh. Ich kannte Frances nicht annähernd gut genug, dass sie mich »Süße« nennen durfte. Verdammt, ich kannte eigentlich
niemanden
gut genug für so etwas. Aber wenn ich versucht hätte, sie zu korrigieren, hätte ich nur noch länger mit ihr telefonieren müssen.
»Danke, dass Sie sich um die Pflanzen kümmern«, sagte ich. »Und wenn meine Mom sich bei Ihnen meldet, richten Sie ihr bitte aus, dass sie mich bei meinem Dad zu Hause anrufen soll.«
Ich legte auf, bevor Frances noch etwas erwidern konnte. Zur Hölle mit den Höflichkeiten. Meine Mom war unterwegs nach Avalon!
Ich konnte es nicht glauben. Erstens konnte ich kaum fassen, dass sie nüchtern genug gewesen war, um so spontan eine Reise wie diese zu planen. Und zweitens konnte ich kaum fassen, dass sie vorhatte, einfach so hier aufzukreuzen. Hätte sie nicht zumindest mal anrufen sollen, ehe sie so drastische Maßnahmen ergriff? Musste sie mich vor vollendete Tatsachen stellen? Ich hatte Dads Telefonnummer ohne Probleme herausgefunden, also hätte ihr das auch gelingen können.
Falls sie natürlich irgendwann
vor
dem gestrigen Tag angerufen hatte, hatte sie mich hier nicht erreichen können. Ich fragte mich, ob mein Dad vielleicht mit ihr geredet und mir nichts davon erzählt hatte.
Schließlich knipste ich das Licht aus und legte mich wieder hin, obwohl ich jetzt vermutlich auch nicht besser einschlafen konnte als vorher. Dumpf starrte ich an die Decke und grübelte darüber nach, wie sehr ich meine Mom unterschätzt hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass sie deprimiert und trübselig sein würde, weil ich weg war. Ich hatte damit gerechnet, dass sie sich noch schlimmer leidtun würde als ohnehin schon. Doch niemals in einer Million Jahren hätte ich damit gerechnet, dass sie mir nachreisen könnte.
Vielleicht geschah gerade wirklich ein Wunder. Vielleicht war mein Verschwinden der Schwall kalten Wassers in ihr Gesicht, durch den meiner Mom klarwurde, was für ein Chaos ihr Leben war. Vielleicht war das der Anstoß, den sie brauchte, um sich Hilfe zu suchen und endlich mit dem Trinken aufzuhören.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag – wünschend, hoffend, betend und die Mächte des Universums anflehend, dass es wahr war. Aber irgendwann schlief ich tatsächlich ein, und ich wachte erst nach zehn Uhr am folgenden Morgen wieder
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