Rosengift - Die Arena-Thriller
ist für dich der große Durchbruch! Ich will auf keinen Fall, dass du diese Chance wegen mir aufgibst«, hatte Matilda immer wieder gesagt. »Schließlich habe ich auch was davon, wenn ich mit meiner berühmten Tante angeben kann.«
Miguels Argument war wesentlich pragmatischer gewesen: »Wir brauchen doch auch die Kohle. Sonst bricht uns die Hütte irgendwann über dem Kopf zusammen.«
Ganz so schlimm war es zwar nicht, aber das Haus hätte eine Renovierung gut vertragen können, das sah auch Matilda so. Im Winter hatte es durch die hölzernen Rahmen der Fenster gezogen, die veraltete Heizungsanlage verbrauchte Unmengen an Gas und das Dach war an manchen Stellen nur notdürftig geflickt. »Nach dem nächsten heftigen Sturm habe ich wahrscheinlich freie Sicht auf den Sternenhimmel«, hatte Miguel neulich düster prophezeit. Und natürlich hatten sich sowohl er als auch Matilda insgeheim auf zwei Monate sturmfreie Bude gefreut. Aber sie waren schlau genug gewesen, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Schließlich hatte Helen geseufzt und dann mit einem breiten Lächeln gesagt: »Also gut, dann ist es also abgemacht. Ich hoffe nur, dass das Haus noch steht, wenn ich wiederkomme.«
Einen Monat war sie jetzt schon fort und einen weiteren würde sie noch durch die Welt tingeln. Beim Gedanken an Tante Helen fiel Matilda das gestrige Telefongespräch wieder ein. Das Geschenk! Sie holte die Trittleiter aus der Speisekammer und trug sie hinauf in Helens Schlafzimmer. Es war ein quadratischer Raum mit großem Fenster und einem Futonbett, die Wand an der Stirnseite des Bettes war orangefarben gestrichen, der Rest blassgelb. Etliche geschnitzte und bemalte Holzmasken aus Afrika hingen an den Wänden. Matilda gruselte sich immer ein wenig vor diesen augenlosen Holzgesichtern, weshalb sie diesen Raum, in dem sie ohnehin nichts zu suchen hatte, so gut wie nie betrat. Die Fensterläden waren geschlossen, ebenso die orange-grün gemusterten Gardinen. Es roch dezent nach Tante Helen – vielmehr nach ihrem Parfum – und nach den Stoffsäckchen mit Sandelholzduft, mit denen sie ihre Kleidung vor Mottenfraß schützte. Bei diesem Geruch wurde Matilda ein bisschen wehmütig ums Herz, denn ihre Mutter hatte dieselben Duftsäckchen benutzt.
An einer Wand des Zimmers stand ein alter Schrank aus dunklem, fast schwarzem Holz. Wie von Helen angekündigt, fand Matilda oben auf dem Schrank einen länglichen, in blaues Geschenkpapier eingepackten Karton mit einer roten Schleife, in der eine Geburtstagskarte steckte.
Übelkeit und Erschöpfung waren verflogen, als sie hastig das Papier aufriss und den Karton öffnete. Zum Vorschein kam ein Geigenetui. Das hatte Matilda schon vermutet.
Vernünftigerweise hatten Matildas Eltern ihr vor acht Jahren, als sie mit dem Geigenunterricht begonnen hatte, ein preiswertes Anfängermodell besorgt. Kurz vor ihrem Unfall hatten sie überlegt, ihrer Tochter ein hochwertigeres Instrument zu kaufen, aber dazu war es dann nicht mehr gekommen. Auch Helen hatte kürzlich bemerkt, dass man sich für den anstehenden Jugendwettbewerb in vier Wochen um ein etwas hochwertigeres Instrument kümmern müsste, woraufhin Matilda vorgeschlagen hatte, eines auszuleihen. »Ja, mal sehen«, hatte ihre Tante geantwortet.
Matilda öffnete langsam den Deckel. »Heiliger Strohsack!«, rief sie wenig später aus – eine Redewendung, die sie von Helen übernommen hatte. Vor ihr in dem Etui lag auf blauem Samt eine Violine. Diese Violine hier, das erkannte Matilda nun, da sie sie vorsichtig aus ihrer Hülle nahm, sofort, ließ sich nicht mit ihrem alten Modell vergleichen: Das Holz war leicht und fein gearbeitet, die Decke schimmerte in einem dunklen Rötlich-Braun, besonders auffällig war die große Schnecke. Voller Ehrfurcht strich Matilda über den glänzenden Lack, mit dem das Holz überzogen war, und fuhr mit dem Finger die Windungen der Schnecke nach. Dem Instrument lag ein Umschlag bei, den sie neugierig öffnete. Ein Meistergutachten. Es handelte sich um eine einhundertfünfzig Jahre alte Mittenwälder Geige der Firma Neuner & Hornsteiner. Bester Zustand. Alle Teile wie Boden, Zargen, Schnecke, Decke und Lack echt und zusammengehörend. Boden zweiteilig aus einheimischem Ahorn, ebenso Zargen und Schnecke, Decke zweiteilig aus engjähriger Fichte, Lack schwarzbraun… Matilda stockte beim Lesen des Gutachtens der Atem. Wow! Das war ein echtes Profiinstrument. Sie war gerührt und beschämt zugleich. Eine Violine
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