Rosengift - Die Arena-Thriller
aber auch verheißungsvoll: neue Schule, neue Freunde, neues Zuhause, neue Stadt – neues Leben. Und neben der tiefen Traurigkeit über den Verlust ihrer Eltern hatte sie die Aussicht auf all dieses Neue, noch Unbekannte auch als etwas Aufregendes und in mancher Hinsicht sogar Befreiendes empfunden. Sie hatte sich gefühlt wie eine Schlange, die sich gerade – wenn auch unter großen Schmerzen – frisch gehäutet hatte. Kein Steffen mehr, der sie zurückweisen, und keine Silvia mehr, die sie verraten konnte. Aus ihrem alten Leben hatte sie lediglich ihre Liebe zur Musik mitgenommen und die Erinnerung an ihre Eltern. Einmal hatte sie Tante Helen von diesen widersprüchlichen Empfindungen erzählt und ihrer Tante gestanden, dass sie sich deswegen schämte. Doch Helen hatte sie beruhigt. »Dafür musst du dich nicht schämen. Das zeigt doch nur, dass du einen starken Lebenswillen und einen starken Charakter hast«, hatte sie gesagt und Matilda hatte sich nach dem Gespräch tatsächlich besser gefühlt. Es war seltsam, aber ihre Tante verstand sie in vieler Hinsicht besser, als ihre Mutter und ihr Vater es je getan hatten, so kam es Matilda zumindest vor – und auch dieser schändliche Gedanke machte ihr zuweilen ein schlechtes Gewissen. Vielleicht, weil Helen acht Jahre jünger war als ihre Schwester. Helen war siebenunddreißig, Renate wäre dieses Jahr fünfundvierzig geworden, Matildas Vater sogar schon fünfzig…
»Huhu! Erde an Matilda! Wo bist du?«, holte Annas Stimme die Freundin ins Hier und Jetzt zurück.
»Entschuldige. Was hast du gesagt?«
»Dass du mit Patrick reden musst. So geht das nicht. Er kann nicht rumerzählen, dass du seine Freundin bist, wenn es gar nicht stimmt.«
»Vielleicht war es ja gar nicht er«, überlegte Matilda.
»Wer sollte es denn sonst sein? Ich war’s nicht und Nicole hat auch Besseres zu tun, als so blöde Gerüchte in Umlauf zu bringen.«
»Jemand, der uns im Kino gesehen hat, vielleicht.«
»Aber ihr seid doch nicht händchenhaltend oder eng umschlungen durch die Stadt gelaufen, oder?«
»Natürlich nicht.«
»Na also. Ich wette, Patrick war es. Du weißt doch, wie Jungs bei ihren Kumpels rumtönen müssen. Und dass Jungs die größeren Klatschmäuler sind als die Mädchen, ist auch nichts Neues. Vielleicht will er damit ja auch Tatsachen schaffen. Self-fullfilling prophecy sozusagen. Du musst ihn zur Rede stellen, ehe er noch mehr Unsinn erzählt.«
»Ich will ihm aber auch nicht wehtun.«
»Mensch Matilda, sei nicht immer so gutmütig. Diesem eingebildeten Kerl kann ein kleiner Dämpfer nicht schaden«, antwortete Anna. Ganz kurz keimte bei diesen Worten in Matilda der Verdacht auf, dass ihre Freundin womöglich auch zu den Mädchen gehörte, die bei Patrick schon einmal abgeblitzt waren. Unmöglich war das nicht. Allerdings änderte es nichts an ihrem Problem und auch nichts an der Tatsache, dass Anna recht hatte: Ein klärendes Gespräch war unumgänglich. Und dabei hatte Matilda ihrer Freundin noch nicht einmal von der Sache mit den Brötchen erzählt. Und auch nicht von dem Mann im Garten. Wenn es den denn wirklich gegeben hatte.
»Mir graut vor solchen Gesprächen, ich weiß nicht, wie man das diplomatisch macht – jemandem sagen, dass man ihn zwar nett findet, aber nicht in ihn verliebt ist.«
»Du kriegst das schon hin. Und wenn er so nett ist, wie du sagst, dann wird er es akzeptieren. Und wenn nicht, dann ist er eh ein Arsch«, meinte Anna und fügte hinzu: »Wollen wir noch Geige üben oder gehen wir gleich ins Schwimmbad? Ich glaube, da draußen sind dreißig Grad.«
»Erst Geige«, sagte Matilda und Anna stöhnte gequält auf. »Du bist furchtbar!«
12
Das Haus, in dem Patrick mit seinen Eltern lebte, sah in etwa so aus, wie Helens Haus aussehen könnte, wenn man einen Haufen Geld in Renovierung und Gartengestaltung stecken würde. Die Einfahrt zur Doppelgarage war mit Natursteinen hübsch gepflastert, der Garten wirkte supergepflegt. Eine dünne blonde Frau in Jeans und weißer Bluse schnitt an einem Rosenbusch herum, der sich vor der weitläufigen Terrasse um ein schmiedeeisernes Gestänge rankte. Sie trug dicke Gärtnerhandschuhe. Enzo macht das immer alles ohne Handschuhe, fiel Matilda ein. Aber der hatte ja auch eher Pranken als Hände.
Alles wirkte hier irgendwie vornehm: Der Gartenteich war dreimal so groß wie der von Helen und nicht versumpft. Bestimmt schwammen Kois darin. Der Rasen erinnerte an einen Golfplatz. Sogar die Vögel
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