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Rosengift - Die Arena-Thriller

Rosengift - Die Arena-Thriller

Titel: Rosengift - Die Arena-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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heutiger Sicht zumindest vor. Und jetzt? Wie ein Kind fühlte Matilda sich jedenfalls nicht mehr. Dieses eine Jahr kam ihr vor wie fünf Jahre. Sie war reifer geworden, erwachsener. Aber vielleicht auch verletzlicher.
    Es war gut zwei Wochen her, dass sie zum letzten Mal hier gewesen war. Oder waren es schon drei? In der ersten Zeit nach der Beerdigung hatte ihr der Gedanke, dass hier, nur zwei Meter unter dem Boden, die Körper ihrer Eltern langsam vermoderten, Unbehagen und Albträume bereitet. Allein der Gedanke an den Friedhof hatte Panik in ihr ausgelöst. Nächtelang war sie aus dem Schlaf hochgeschreckt, verstört und verschwitzt und mit feuchten Wangen. Aber schließlich waren die furchtbaren Träume immer seltener gekommen, auch weil sie so offen mit Frau Dr. Hoßbach über die makabren Bilder, die sie heimsuchten, hatte reden können. Danach war sie alle paar Tage hierher gekommen. Sie hatte erlebt, wie der Blumenschmuck auf den Gräbern wechselte – Rosen – Sonnenblumen – Astern – Dahlien – Christrosen – Tulpen –, sie hatte beobachtet, wie das bunte Laub auf die dunkle Graberde und die Wege herabgefallen war. Dann der erste Schnee: Das schwarze Kreuz aus Schmiedeeisen hatte eine weiße Haube bekommen und damit sehr hübsch ausgesehen. Ab und zu hatte Matilda ihre Geige mitgenommen, und wenn weit und breit niemand zu sehen war, wie an besonders kalten Wintertagen, hatte sie ihren Eltern mit klammen Fingern etwas vorgespielt. Helen hatte diese häufigen Friedhofsbesuche mit Skepsis und Besorgnis betrachtet, das wusste Matilda, auch wenn ihre Tante nichts gesagt hatte. Matilda hatte Frau Dr. Hoßbach einmal nach ihrer Meinung gefragt: Wurde sie allmählich verrückt, weil sie sich auf dem Friedhof so geborgen und ruhig fühlte wie sonst nirgendwo? Die Psychologin hatte entgegnet, sie solle mit ihrer Trauer so umgehen, wie sie es für richtig hielte, da dürfe ihr niemand reinreden, auch ihre Tante nicht. Erst nach den Weihnachtsferien, als Matilda langsam in ihrer neuen Klasse und in ihrem neuen Leben Fuß gefasst, ihre Freundschaft mit Anna und Nicole vertieft und sich in Helens Haus nicht mehr wie ein Feriengast zu fühlen begonnen hatte, waren ihre Besuche am Grab nach und nach seltener geworden.
    Versunken in die Erinnerungen ließ Matilda ihren Blick über das Grab gleiten. Es war mit hellgrauem Granit eingefasst und größtenteils mit Efeu zugewachsen, nur in der Mitte stand auf einem Sockel eine Schale mit cremefarbenen Rosen und kleinen blauen Blumen. Männertreu hießen die blauen Blumen, fiel Matilda ein. Trotz der Hitze des Tages wirkten sie frisch. Wer hatte sie gegossen? Soviel Matilda wusste, kam die Gärtnerin nur einmal im Monat vorbei. Patrick? Sie stellte sich vor, wie er erst dieses gemeine Foto schoss und dann fürsorglich den schlaffen Blumen Wasser gab. Das war echt krank!
    Aber vielleicht hatten auch die Angehörigen, die das üppig bepflanzte Familiengrab nebenan pflegten, Mitleid mit den Pflanzen in der Granitschale bekommen und ihnen einen Guss Wasser spendiert. Noch während Matilda diesem Gedanken nachhing, sah sie etwas Weißes zwischen den blauen Blumen aufblitzen. Hatte der Wind ein Stück Papier in die Schale geweht? Sie zog es heraus. Es war ein etwa postkartengroßes Blatt, in blutroten Druckbuchstaben stand darauf: Warte, warte nur ein Weilchen…
    Matilda starrte auf das Papier. Jedes Kind in Hannover wusste, was diese Worte bedeuteten, und auch Matilda hatte schon davon gehört. Es war die Anfangszeile eines makabren Liedes aus den Zwanzigerjahren. Damals hatte der Massenmörder Fritz Haarmann in der Stadt sein Unwesen getrieben. Das Gericht hatte ihm nachgewiesen, dass er zwischen 1914 und 1924 mindestens vierundzwanzig junge Männer ermordet und zerstückelt hatte. Er war zum Tod durch das Schafott verurteilt worden. Bis heute hielten sich Gerüchte, dass der gelernte Schlachter das Fleisch seiner Opfer verkauft haben sollte, auch wenn es nie einen Beweis dafür gegeben hatte. Matilda erinnerte sich an die erste Strophe des Liedes:
    Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen
macht er Schabefleisch aus dir.
Aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg.

23
    Ein kalter Windstoß fuhr Matilda durch die Haare. Sie zog die Schultern hoch und sah sich um. Die Sonne war inzwischen schon fast ganz hinter den Bäumen versunken, die

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