Rosengift - Die Arena-Thriller
Schatten der Sträucher und der Grabsteine wurden dunkler. Alles um sie herum war plötzlich ganz still. Nicht einmal die Vögel, die sonst auf dem Friedhof so zahlreich und lautstark vertreten waren, zwitscherten mehr. Nur das Rauschen der nahen Ausfallstraße war ganz leise zu hören.
Matilda bekam Angst. Sie sah sich um. Weit und breit war kein Mensch mehr zu sehen, nicht einmal die alte Frau war noch da. Was, wenn Patrick wirklich ein »Psycho« war? Was, wenn er sie mit der Mail hierher gelockt hatte und schon hinter einem Grabstein auf sie lauerte, bereit, seine Drohung wahr zu machen? Und sie war prompt in diese Falle gelaufen, hektisch und dumm wie ein aufgescheuchtes Huhn! Hier war der ideale Ort und Zeitpunkt für ein Verbrechen, nirgendwo konnte man sich besser verstecken und in aller Ruhe auf sein Opfer warten als auf einem Friedhof. Opfer. Jetzt hatte sie es selbst benutzt, dieses Wort, wenn auch nur in Gedanken. Wieso hatte sie nicht Anna mitgenommen oder Miguel? Sie hätte sich ohrfeigen können für ihr unüberlegtes Handeln.
Was war das? Hatte sie da nicht eben das Knirschen von Schritten auf Kies gehört? Wieder schaute sie sich nach allen Seiten um, aber sie sah niemanden. Nur Grabsteine und Büsche.
Panik ergriff sie, Hals über Kopf rannte Matilda zum Ausgang. Am Friedhofstor angekommen ging ihr Atem keuchend – dabei war sie doch eigentlich gut trainiert und nicht so leicht aus der Puste zu bringen. Plötzlich war ihr übel und sie musste sich gegen eine Mauer lehnen.
»Geht’s dir nicht gut?«
Matilda erschrak fast zu Tode. Sie hatte für einen, wie sie glaubte, ganz kurzen Moment nur die Augen geschlossen. Nun stand eine winzige alte Frau vor ihr. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, das graue Haar hing ihr wirr und strähnig um den Kopf, ihr Gesicht bestand aus tausend Runzeln. Sie sah aus wie eine Hexe und Matilda war nicht einmal sicher, ob die Frau wirklich existierte oder ob sie wieder einmal fantasierte. Mit einem kleinen Aufschrei stieß sie sich von der Mauer ab und rannte davon. Erst vorne, an der dicht befahrenen Hauptstraße, kam Matilda wieder zur Besinnung und blieb stehen. Verdammt, ich benehme mich wie eine Irre, dachte sie. Die arme alte Frau wird von meiner Reaktion mehr erschrocken sein als ich. Langsam kehrte sie um und ging zu ihrem Fahrrad zurück. Dabei bemerkte sie, dass sie den Zettel noch immer in der Hand hielt, und zwar so fest, dass sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen gebohrt hatten. Wütend riss sie das Papier in viele kleine Fetzen und streute diese in ein Gebüsch.
Erst später, auf dem Heimweg, kam ihr der Gedanke, dass das womöglich ein Fehler gewesen war. Sie hatte Beweismaterial vernichtet, ohne daran zu denken, dass sie es vielleicht noch einmal brauchen würde. Matilda erinnerte sich daran, wie Nicole erwähnt hatte, dass Patricks Vater recht streng war. Und falls Patrick weitere derartige Scherze auf Lager hatte, würde sie seinen Vater darüber informieren, nahm sie sich vor. Dabei wäre der Zettel bestimmt nützlich gewesen, vielleicht hätte man sogar Patricks Schrift darauf erkannt. Wenn Herr Böhmer es mit der Erziehung seines Sohnes wirklich ernst nahm, würde er seinem missratenen Sprössling nach dem Gespräch mit Matilda sicherlich die Hölle heißmachen. Immerhin hatte sie ja noch die geschmacklose Mail, die durfte sie auf keinen Fall löschen.
Zuerst aber wollte Matilda Patrick selbst einen Besuch abstatten. Sie würde ihn jetzt sofort auf die Mail, das Foto und die Ereignisse auf dem Friedhof ansprechen, sie würde ihm verbieten, sie noch einmal derart zu erschrecken, und ihm auch damit drohen, alles seinem Vater zu sagen. Das würde ihn hoffentlich zur Vernunft bringen.
Sie trat energisch in die Pedale und spürte, dass die Angst, die sie noch vor wenigen Minuten empfunden hatte, einer grenzenlosen Wut Platz gemacht hatte. Diesmal war Patrick zu weit gegangen, diesmal würde sie sich nicht mit halbherzigen Aussagen zufriedengeben oder klein beigeben, weil ein schlechtes Gewissen sie plagte. Es war an der Zeit, ihm einmal ganz ehrlich die Meinung zu sagen. Matilda stellte sich vor, wie Familie Böhmer gerade auf der Terrasse vor ihrem aufgeräumten Garten saß und den Sommerabend genoss. Vater, Mutter, Kind, die perfekte Familienidylle. Es sei denn, Patrick fuhr ebenfalls gerade vom Friedhof nach Hause – als verhinderter Mörder sozusagen. Aber was hätte ihn eigentlich daran hindern sollen, mir etwas anzutun?,
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