Rosenherz-berbKopie
die Dorfstraße. Sie wusste, dass Ortmann nur zwei
Möglichkeiten hatte. Sechshundert Meter hinter dem Ort würde er
unweigerlich auf die Hochrhönstraße stoßen. Dort würde er
nur nach rechts oder nach links fahren können. Bis dahin musste sie
den Cayenne wieder in Sichtweite haben, sonst standen die
Chancen fifty-fifty. Und wenn sie sich falsch entschied, hätte sie
ihn verloren.
Links
hinter dem Dorf lagen am Hang zwischen den Bäumen ein paar
Parkplätze für die Wanderer, die von hier aus die Felsen der
Milseburg erkunden wollten. Sie sah, wie ein roter Passat langsam auf
die Straße zurollte. Anna drückte mehrmals auf die Hupe, aber der
Wagen rollte weiter.
Als
sie damit rechnete, ihn links überholen zu können, sah der Fahrer
sie kommen und blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Sie steuerte
nach rechts, verließ für einen Moment den Asphalt und holperte über
den unbefestigten Straßenrand.
Hundert
Meter vor der Kreuzung sah sie Ortmanns Bremslichter. Ohne zu
blinken, bog er nach rechts.
Der
Hochrhönring führte steil bergab. Anna beschleunigte. Als sie
sich dem Cayenne bis auf zwanzig Meter genähert hatte, machte
Ortmann plötzlich einen neuerlichen Rechtsschwenk.
Anna
stieg in die Bremsen, hatte die Abzweigung aber bereits
verpasst, als der Mazda endlich zum Stehen kam.
Sie
legte den Rückwärtsgang ein und schaute auf das Ortsschild:
Oberbernhards.
Sie
kam an einer Weide mit Schafen vorbei, passierte ein paar Häuser,
sah das Hinweisschild zu einer Jugendherberge, fuhr aber weiter
bergab und hatte den Ausgang des kleinen Dorfes schon wieder
erreicht.
Dann
sah sie ihn. Der schwarze Porsche Cayenne hatte etwa vierhundert
Meter Vorsprung. Er raste die schmale Straße zwischen den
Feldern und Streuobstwiesen hinab. Anna nahm an, dass Ortmann nur
einen Bogen gefahren war, um sie abzuhängen, dass er gleich einen
Linksschwenk machen würde, um wieder auf die Hauptstraße zu
gelangen.
Stattdessen
bog er noch einmal rechts ab. Er verschwand zwischen den Bäumen.
Als
Anna die Stelle erreicht hatte, hielt sie kurz an. Sie konnte
geradeaus weiterfahren, aber ein Schild zeigte an, dass es sich um
eine Sackgasse handelte. Rechts ging es zum Parkplatz eines
zwischen den Bäumen gelegenen Ausflugshotels.
Sie
entschied sich für das Hotel. Sie fuhr die Auffahrt hinauf und
schaute sich um. Das Hotel hieß Milseburg. Es
war ein großer, weiß verputzter Bau, in dessen Mitte sich ein Turm
aus Fachwerk erhob. Links neben dem Haupthaus gab es zwei kleinere
Gebäude. Es standen zehn, zwölf Wagen auf dem Parkplatz.
Der
Cayenne war nicht dabei.
Anna
fluchte.
Sie
fuhr ein Stück weiter, dann setzte sie zurück, um auf dem schmalen
Weg zwischen den Wirtschaftsgebäuden zu wenden.
Im
Rückspiegel sah sie Ortmanns Wagen. Er stand etwa zehn Meter hinter
ihr. Es saß niemand am Steuer.
Langsam
rollte sie zurück auf den Parkplatz. Sie stellte den Mazda hinter
einem weißen Wohnmobil ab.
Sie
wartete. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Als fünf Minuten
später immer noch nichts geschehen war, stieg sie aus. Vorsichtig
näherte sie sich dem Cayenne. Sie legte ihre Stirn an die Scheibe
des Seitenfensters und schaute in den Innenraum. Der Wagen war leer.
Vielleicht
hatte Ortmann seinen Weg zu Fuß fortgesetzt und war längst in einem
der umliegenden Wälder verschwunden. Vielleicht kannte er
jemanden in dem Hotel und hatte dort Unterschlupf gefunden.
Vielleicht hatte er sich auch nur irgendwo verschanzt und wartete
darauf, dass Anna die Aussichtslosigkeit ihres Unternehmens
einsah und umkehrte.
Wofür
auch immer er sich entschieden hatte, er war im Vorteil. Er lebte
hier, er kannte die Gegend, er wusste, was er zu tun hatte. Sie
hingegen hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Hinter jeder Kurve,
hinter jedem Baum, hinter jeder Mauer begann für sie unerforschtes,
feindliches Gelände.
Und
jetzt, kleine Anna, dachte sie. Was machst du jetzt? Rufst du den
großen Marthaler an und sagst ihm, dass er seine Truppen in Bewegung
setzen soll, dass du nicht weiterweißt, dass du mal wieder Mist
gebaut hast, dass du aufgibst, dass dieser blöde Eckenpinkler mit
seinem schönen, blöden Cayenne dich ausgetrickst und abgehängt
hat?
Dann
fiel ihr ein, dass sie Marthaler gar nicht anrufen konnte, dass ihr
Handy in ihrem Rucksack steckte, der noch immer unter dem Tisch in
Lichtenbergs Pergola stand.
In
Ordnung, sagte sie sich schließlich, du bist ein kleines, schwaches
Mädchen. Dir ist gerade fürchterlich zum Heulen
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