Rosenherz-berbKopie
erholen. Er brauchte Schlaf. Er
beschloss, nicht nach Hause und auch nicht zu den Sabatos zu fahren.
Er ging an den Wandschrank und zog aus dem untersten Fach eine
Wolldecke und ein Kopfkissen hervor. Es gab öfter Situationen, in
denen er bis nachts an seinem Schreibtisch sitzen und sehr früh am
nächsten Morgen weiterarbeiten musste. Er klappte die rote
Besuchercouch aus, deren Anschaffung man ihm im vorigen Jahr nur
nach mehreren Nachfragen gestattet hatte. Zwei Formulare hatte er
dafür ausfüllen und auf einem Extrazettel eine Begründung
schreiben müssen.
Er
zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich hin. Fast
augenblicklich schlief er ein, schreckte aber immer wieder auf.
Einmal hörte er in der Nacht durch das gekippte Fenster ein
Geräusch von der Straße. Er stand auf und schaute nach draußen:
ein Betrunkener, der unter einer Laterne stand und ein altes
Kirchenlied sang. Er hatte eine Flasche in der Hand, aus der er
ab und zu einen Schluck nahm. Marthaler erkannte ihn. Es war ein
Mann aus der Nachbarschaft, der ihn vor ein paar Tagen
angesprochen hatte. Er hatte sich beschwert über drei junge Frauen,
die ihm gegenüber wohnten und bei offener Gardine nackt vor
ihrem Fenster tanzten. Immer wieder könne er sie durch sein
Fernglas bei ihrem Treiben beobachten. Wenn man ihm nicht
glaube, sei er willens und in der Lage, Beweise vorzulegen;
er
habe die drei nämlich mehrfach mit seiner Videokamera aufgenommen.
Marthaler hatte ihm freundlich geraten, das zu unterlassen, wenn er
sich nicht selbst eine Anzeige einhandeln wolle, woraufhin der
Mann ihn als pflichtvergessenen Beamten beschimpft hatte, der
die öffentliche Unzucht fördere und dafür von den Steuerzahlern
mit einer dicken Pension belohnt werde.
Marthaler
ging zur Toilette. Dann nahm er sich aus dem Kühlschrank in der
Teeküche eine Flasche Bier. Er setzte sich auf den Rand der
Bettcouch und trank die Flasche mit wenigen Schlucken leer.
Kurze Zeit später schlief er wieder ein.
Im
Traum sah er sich als kleinen Jungen hinter seinem Elternhaus im
Sandkasten sitzen. Er hatte eine Burg gebaut, die von kleinen
silbernen Plastikrittern bewacht wurde. Nicht weit vom Sandkasten
stand eine große Trauerweide, an der eine Schaukel befestigt war.
Auf der Schaukel saß eine lachende Frau im weißen Brautkleid.
Jetzt erkannte er, dass es seine Mutter war. «Wo ist Tereza?»,
rief sie ihm zu. Er schaute sich um. «Da ist sie doch!», sagte er
und wies auf ein Mädchen, das fünfzig Meter weiter in einem
Rosenhag stand und seine Arme fest um eine schwarze Puppe
geschlungen hatte. «Lauf zu ihr, Robert. Lauf schnell!», rief
seine Mutter. Der Junge stand auf und rannte auf das Mädchen zu.
Doch so schnell er auch lief, er kam Tereza keinen Schritt näher.
Sie hatte die schwarze Puppe fallen lassen und ihre Arme
ausgebreitet. Sie erwartete ihn. «Was soll ich machen, Mama?»,
rief er verzweifelt. «Renn, mein Junge, renn!», antwortete
die Mutter von ihrer Schaukel herab. Bald war der Junge außer Atem.
Er hatte Seitenstechen, der Schweiß rann an seinem Körper hinab.
Tereza schaute ihn mit großen Augen an. Bald zeigte sich
Enttäuschung in ihrem Blick. Sie schüttelte den Kopf und wandte
sich ab. Langsam entfernte sie sich. Der Junge rief nach seiner
Mutter, aber die Schaukel war jetzt leer. Er ließ sich zu Boden
sinken. Dann legte er sich auf den Rücken, schaute in den Himmel
und sah den Schmetterlingen zu. Das Mädchen hatte er bereits
vergessen.
Als
Marthaler aufwachte, hatte er Kopfschmerzen. Er schaute auf die
Uhr. Es war kurz nach fünf. Er schloss die Augen wieder, merkte
aber bald, dass er nicht wieder einschlafen konnte. Er hatte stark
geschwitzt, sein Mund war trocken. Er fasste an seine Stirn, aber er
hatte kein Fieber.
Am
Waschbecken in der Teeküche putzte er sich die Zähne. Dann
zog er sich an und wählte die Nummer der Klinik. Er ließ es lange
klingeln. Er legte auf und versuchte es erneut, aber auch diesmal
erreichte er niemanden.
Marthaler
verließ sein Büro und schrieb Elvira einen Zettel, den er ihr
auf den Schreibtisch legte: «Ich melde mich im Laufe des Tages,
Gruß Robert».
Eine
Minute später stand er auf der Straße. In den Häusern der
Umgebung waren erst wenige Fenster beleuchtet. Auf der
gegenüberliegenden Seite der Fahrbahn stieg ein Mann in sein Auto.
Marthaler lief die Günthersburgallee hinauf und bog nach links in
die Rohrbachstraße. Er klopfte an die Scheibe von Harrys
Backstube. Kurz
darauf wurde das
Weitere Kostenlose Bücher