Rosenherz-berbKopie
öffnete den Reißverschluss. Als sie im Freien war, richtete
sie sich auf. Schemenhaft konnte sie die Umrisse des großen
Hauszeltes ausmachen, das keine drei Meter von ihrem Iglu entfernt
stand. Sie lauschte.
Die
Frau wimmerte.
Dann
kam das Stöhnen eines Mannes hinzu.
«Verdammt!»,
sagte Anna. «Könnt ihr nicht leiser vögeln?»
Für
ein paar Sekunden herrschte Ruhe. Kurz darauf war aus dem Inneren
des Zeltes ein zweistimmiges Kichern zu hören.
Anna
legte sich wieder hin.
Nach
ihrem Besuch bei Ingeborg Kalz hatte sie den Mazda aufgetankt und
war in Rothenburgsort auf die Autobahn gefahren. Kurz vor
Hannover hatte es einen Stau gegeben. Der Anhänger eines Lkw, der
Spielzeugbälle geladen hatte, war in einer Kurve umgekippt. Überall
auf der Fahrbahn und den angrenzenden Grünstreifen kullerten die
bunten Gummibälle herum. Es hatte eine Stunde gedauert, bis sie
weiterfahren konnte.
An
der Raststätte Kassel hatte sie eine Pause eingelegt. Sie hatte ein
halbes Hähnchen bestellt, das halbroh serviert wurde und das sie
nach einem heftigen Wortwechsel mit der Serviererin hatte
zurückgehen lassen. Sie hatte zwei Dosen Cola light gekauft und
beide auf dem Parkplatz ausgetrunken.
Weil
die Benzinanzeige des Mazda seit einigen Wochen kaputt war,
hatte sie den Wagen an eine der Zapfsäulen gelenkt und
sicherheitshalber noch einmal vollgetankt.
Am
Gambacher Kreuz war sie erneut in einen Stau geraten. Bis sie
in Frankfurt angekommen war, hatte es eine weitere Stunde
gedauert.
Sie
hatte sich in der Rezeption des Sandelmühlen
Camp angemeldet
und für drei Tage im Voraus bezahlt. Man hatte ihr eine kleine
Parzelle am äußersten nördlichen Ende des Platzes zugewiesen,
direkt an dem Zaun, der das Grundstück begrenzte und hinter dem
sich die Wipfel einiger Bäume erhoben. Nachdem sie ihr Zelt
aufgebaut und die Isomatte auf dem Boden platziert hatte, war sie
eine Stunde lang durch die Gegend gelaufen.
Der
Campingplatz lag am Rande des Stadtteils Heddernheim, direkt
zwischen dem Flüsschen Nidda und einem riesigen modernen
Gewerbegebiet. Es war ein merkwürdiger Ort: nicht weit vom Zentrum
der Stadt, dennoch schon fast an deren Rand, umgeben von Wesen und
alten Bäumen, die den Flusslauf säumten; aber schon einen
Steinwurf weiter schloss sich das Mertonviertel mit seinen
Bürogebäuden an. Dennoch hatte Anna Buchwald alles, was sie
brauchte. In der Nähe gab es einen Supermarkt, ein Schwimmbad und
eine U-Bahn-Station. Dem Sandelmühlen
Camp vorgelagert
war ein riesiger Parkplatz, der zu einem Hotel mit großem
Restaurant gehörte.
Sie
war hineingegangen, hatte sich in eine Ecke gesetzt, hatte
schaudernd die ebenso gigantische wie fleischlastige Speisekarte
studiert und schließlich nur einen Salat und ein Pils bestellt.
Jedes Mal, wenn der Kellner an ihr vorbeigekommen war, hatte er
ihr zugezwinkert. Zurück im Camp, hatte
sich Anna in ihr Zelt gelegt, war fast augenblicklich
eingeschlafen, aber keine fünf Stunden später wieder
aufgewacht, als Frau Stöhn und Herr Keuch sie zur Zeugin ihrer
Liebe machten.
Jetzt
hörte man aus dem Nachbarzelt nur noch das leise Schnarchen des
Mannes.
Anna
kramte ihren iPod aus der Tasche und startete das Programm mit den
autogenen Übungen. Über dem sphärischen Geplätscher
elektronischer Musik redete ihr die sonore Stimme eines Mannes ein,
dass ihre Beine und Arme schwer würden, dass ihr Körper von Wärme
durchflutet sei und ihr Herz ruhig und gleichmäßig schlage. «Schon
gut, alter Säusler, ich glaub dir sowieso nichts», flüsterte sie.
Dann
fielen ihr die Augen zu.
Die
Mittagssonne schien bereits auf das Zeltdach, als sie wieder
auf die Uhr schaute. Es war kurz vor zwölf. Sie schwitzte, und ihre
Zähne fühlten sich stumpf an. Anna nahm ihren Waschbeutel und ging
zu den Duschen.
Als
sie zurückkam, saß die Nachbarin am gedeckten Frühstückstisch
vor ihrem Zelt. Die Frau war Mitte dreißig und hatte dünnes,
blondes Haar. Sie lächelte Anna zu, dann errötete sie. Sie trug
eine rote Jogginghose und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift: «I
love my dentist».
Kurz
darauf erschien der Mann im Eingang des Zeltes. Auch er lächelte
unsicher. Auch er hatte eine rote Jogginghose und ein weißes
T-Shirt an. Auf seinem stand: «I'm the dentist».
Anna
nickte den beiden zu. Sie ging an den Wagen und holte ihr
Portemonnaie, das sie unter die Fußmatte gelegt hatte. Auf der
Terrasse des Hotelrestaurants trank sie einen Cappuccino und aß ein
Käsebrötchen.
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