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Rosenpsychosen

Rosenpsychosen

Titel: Rosenpsychosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna-Maria Prinz
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hatte das alles studiert und zu Hause den Wald vor Bäumen nicht gesehen. Und jetzt, jetzt war sie frei, war zum ersten Mal um diese Stunde unterwegs, in einer kolossalen Nacht wie dieser, und trottete allein in Birkenstocks und mit Pusteln übersät durch die Straßen. Wie eine alte Katze auf der Suche nach einer gelähmten Maus. Passte am Ende alles ins Bild? War sie feige, ein Wicht, ein Nichts?
    Olaf hatte von kitschigen Sonnenuntergängen gesprochen. Das tat man nicht gegenüber Kumpels. Verflucht, dachte sie, einen Tag lang wollte sie Patientin sein und all das, womit sie nicht klar kam, all ihre furchtbaren Erlebnisse mit jemandem besprechen. Doch es gab nichts zu besprechen, nichts aufzuarbeiten. Da waren keine furchtbaren Erlebnisse, und beinahe bedauerte sie diesen langweiligen Umstand.
    Sie arbeitete Tag für Tag auf, was sie nichts anging. Die Abenteuer, die das Leben möglicherweise zu bieten hatte: Secondhand-Abenteuer, nicht ihre. Die Abgründe, die sich auftun konnten: Sie würde nicht hineinstürzen. Die Berge, die man erklimmen konnte, wenn man mutig war: ihre Sache nicht. Und nun hatte sie Olaf abgesagt – wie kreuzdumm sie doch war! Was sagte sie immer zu ihren Patienten? Überlegen Sie, was das Schlimmste ist, das passieren kann, und Sie werden sehen, so schlimm ist es gar nicht. Haha, sehr schlau, dachte sie. Was wäre wohl Schlimmes passiert, wenn sie zugesagt hätte? Sie waren wirklich zu beneiden, ihre Patienten, die stets eine plausible Ausrede für das ungezügelte Ausleben ihrer Schrullen parat hatten, wahlweise für das verkrampfte Nichtausleben.
    Helene blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die Sterne zu betrachten. Pierre, mon cher ami, tu me manques …
    Nur dreißig Meter weiter zischelten die Bäume, unüberhörbar für Marie: Schlampe, elende! Einen ganzen Abend hatte sie mit Herrn August Graf von W. verbracht, hatte stundenlang mit ihm auf der Terrasse eines noblen Restaurants gesessen, Hummer gegessen, später Rotwein getrunken, vornehm gescherzt, Zigarillos geraucht, angeregt über Musik und Literatur geplaudert und ihn schließlich da gehabt, wo er hingehörte: auf ihre Liste. Kennengelernt hatte sie ihn vor Jahrenin der Wiener Oper, wo er ihr beim Durchschreiten der Sitzreihe derart auf ihren hellgrauen, spitzen Seidenschuh getreten war, dass sie nicht umhinkonnte, sich seiner noch einige Zeit zu erinnern. In der Pause war sie nicht fähig gewesen, ihm ihre Telefonnummer vorzuenthalten. Nun war er hier, hatte der Taufe eines Enkels beigewohnt und der Verwandtschaft erklärt, den Abendflieger noch erwischen zu müssen.
    Ich bin ein silbern glänzender Abendflieger, dachte Marie, als sie mit Herrn von W. vor dem Eingang des Hotels stand und im Begriff war, ihn hinaufzubegleiten. Auf gutes Aussehen, relative Jugend und eine gesunde Halbbildung konnte man sich doch immer verlassen. Alles in allem eine feste Größe, mithilfe derer man selbst den Papst herumkriegen konnte, wenn man es darauf anlegte. Wie einfach es doch war, in weniger als einer Sekunde mit den Augen ein Versprechen abzugeben, dem sich nicht einmal der standhafteste Ehemann entziehen konnte. Und wie gähnend langweilig auf Dauer.
    Herr von W. war bis auf seinen Vornamen stinklangweilig, fand Marie, und bekam Lust auf eine Wette mit sich selbst. Ein paar wohlgesetzte, von dem sauberen Herrn vermutlich nie zuvor gehörte Worte gekonnt ins gräfliche Ohr gehaucht, und er würde ihr in spätestens einer Stunde sein gesamtes Vermögen überschreiben. Den Löwenanteil würde sie selbst behalten, ein bisschen was Herrn von W. wieder zurückgeben, damit er das städtische Altersheim bezahlen und ab und zu noch in eine Trinkhalle gehen konnte, mit einem beträchtlichen Teil die Killer im Hunsrück bezahlen und den verbleibenden siebenstelligen Betrag an die Leute von Greenpeace schicken, damit sie weiterhin leckere Hummer retteten.
    Leider wurde dieser launige Gedanke jäh unterbrochen, als Marie die braunen Birkenstocks auf sich zukommen sah. Sowie sie da stand, die eine Hand von der Krawatte des Herrn von W. mehrmals umschlungen, mit der anderen ein Zigarillo in die Höhe haltend, wäre sie gerne in einem Vulkankrater verschwunden, der jedoch – wie immer, wenn man etwas ganz dringend brauchte – nicht zur Stelle war.
    Helene sagte nichts, sondern sah Marie nur fest in die Augen, so beinhart, dass diese sich zum Kampf rüstete.
    »So eine Überraschung!«, rief Marie und versuchte, um ihre abscheuliche

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