Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
Vom Netzwerk:
einige Seiten weiter und verharrte dann bei einem Artikel mit der Überschrift »Die Frequenz der Verstorbenen entdecken«. Darüber befand sich ein Schwarz-Weiß-Bild von einem alten Mann, der vor mehreren Fernsehern saß.
    »Ach, der Typ«, sagte Charlotte, als sähe sie einen alten Bekannten. »Klaus Schreiber. Er denkt, dass er Tote in dem Störbild von seinem Fernseher sieht.«
    Mir fiel das »Er denkt« auf, und ich wartete ab.
    »Tragisch«, fuhr Charlotte fort. »Weißt du, seine Tochter ist gestorben, und ich glaube, das in dem Fernseher soll sie sein. Manche Leute denken, das sei echt. Die denken, das wäre eigentlich kein Geist, sondern so eine Art spirituelle Verbindung zwischen dem Menschen, den sie sehen wollen, und dem Fernseher. So, als würde Klaus’ Verstand irgendwie das Bild von seiner Tochter auf den Bildschirm bringen.«
    Ich beobachtete, wie Charlotte noch einen Moment länger das Bild ansah und das Buch dann mit einem unentschlossenen »Hm« zuschlug. Dann holte sie ihr Mathebuch ausihrem Schulrucksack. Wir sollten zusammen Hausaufgaben machen, weil wir heute viel aufhatten. Während sie ihr Heft aufschlug, blickte ich hinunter auf den Titel von Spiritismus neben ihren Knien, und wieder blieb ich bei dem Bild des hübschen schlafenden Mädchens hängen. Ja, es war wirklich ein Trost, sich Rose so vorzustellen, wenn ich denn schon annehmen musste, dass sie tot war.
    Gleichzeitig wurde mir aber auch klar, dass dieses Bild Charlotte gar nichts sagte. Das war nicht der Trost, den sie wollte. Charlotte brauchte Komplikationen, eine Aufgabe und möglichst irgendwelche hochtechnischen Instrumente. Wenn ich wollte, dass sie verstand, was ich fühlte, musste ich ihr dabei helfen – ich musste ihr geben, was sie brauchte.

Fünfzehn

    25. bis 27. Mai 2006
    Am Donnerstagabend fuhren Charlotte und ich nach dem Essen zur Grundschule, um einen Spaziergang um den Pausenhof zu machen. Wir sprachen nicht über Rose. Stattdessen tauschten wir Schulhoferinnerungen aus: wie Sam Allison früher in der Pause eine Sonnenbrille getragen und uns Mädchen allesamt betört hatte, indem er Helen-Keller-Witze erzählte, während er uns auf der Schaukel Schwung gab; wie Amy Priest – inzwischen wohl die berühmteste Schülerin unserer Klasse, seit sie ein paar Wochen lang bei »The Bachelor« zu sehen gewesen war – sich die Augen aus dem Kopf heulte, als ihr beim Brennball ein Vogel auf die Schulter kackte, und wie sich früher alle über Toby lustig machten und ihm unterstellten, er wolle es mit »Little Debbie« treiben – das war das Mädchen mit der karierten Kittelschürze auf den Snackpackungen, von denen er sich praktisch ernährte.
    Nachdem sich dieses Thema erschöpft hatte, sprachen wir über die Gartenparty, die Charlottes Mutter so dringend veranstalten wollte, solange ich noch hier war. Paul sollte mit seiner Familie kommen und möglichst auch ein paar Nachbarn. Ich bot an, am Freitag alles einzukaufen, und Charlotte widersprach nicht.
    Am Freitagabend schnitt ich gerade Hähnchenbrust für die Kebabs, als Charlotte nach Hause kam.
    Sie war spät dran und sah ein bisschen ramponiert aus. Ihre Augen waren gerötet, und eine dicke Haarsträhne hing aus ihrem strengen Dutt.
    »Schlimmer Tag?«, fragte ich.
    Sie grummelte, warf ihre Taschen ab und zog sofort eine Zigarette aus ihrer Handtasche.
    »Schlimm ist gar kein Ausdruck«, murmelte sie.
    »Alles okay mit dir? Sind die Schüler ausgeflippt?«
    Ich wollte es nicht sagen, aber sie sah aus, als hätte sie geweint.
    »Die Schüler flippen jeden Tag aus. Entweder die oder ich.«
    Charlotte sah mich an. Ihre Augen waren glasig, darunter rötlich-graue Streifen. Sie sah erschöpft aus.
    »Porter hat angerufen. Die Laborergebnisse sind da. Sie bestätigen, dass es Rose ist.«
    Ein glitschiges Stück Hähnchenbrust rutschte mir aus der Hand.
    »Oh.« Ich legte das Messer ab.
    »Kommt sicher heute in den Abendnachrichten.«
    »Sicher«, erwiderte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
    Außerdem war ich mir nicht sicher, ob eine von uns betonen müsste, wie traurig das war. Und eine Überraschung war es ja eigentlich nicht. Wir beide hatten es längst geahnt – wie jeder andere auch. Aber vielleicht hatte Charlotte, trotz aller Indizien, immer noch gehofft – so wie damals, als wir Kinder waren.
    »Es tut mir ehrlich leid, Charlotte.«
    Sie nickte und starrte minutenlang auf ihre Zigarette, ohne sie anzustecken. Ich drehte die rohe Hühnerbrust um,

Weitere Kostenlose Bücher