Rosenrot, rosentot
konnte. Starkes Leid .
Ich drehte das Gesicht weg, entwand mich Tobys Griff und rannte den Rasen hinunter zum Gehweg. Fort von dem Haus.
»Wo willst du hin?«, rief Toby mir nach. Seine Stimme klang fast wieder normal, allerdings nur fast.
Beinahe rutschte ich auf dem Schnee aus, der bereits den Gehweg bedeckte. Doch ich fiel nicht hin. Ich rannte.
Achtzehn
27. Mai 2006
Toby öffnete die Tür bereits, bevor ich klopfen konnte.
»Ich dachte schon, du kommst nicht. Du hast eine Stunde gebraucht.«
»Ich habe nachgedacht, so, wie du wolltest.«
»Gut«, sagte er und führte mich zu einer quietschgrünen IKEA -Couch, die in dem staubigen alten Wohnzimmer vollkommen deplatziert wirkte. Alle Fenster standen offen, sodass eine angenehme Frühlingsbrise durchs Zimmer wehte und den Schimmelgeruch verdrängte.
»Und was hast du dir überlegt?«, fragte er, als er sich neben mich setzte.
»Ich denke, dass ich früher vielleicht nicht alles verstanden habe, was ich empfand. Und ich denke, dass ich es heute gern verstehen würde.«
Tobys Blick wanderte durch sein Wohnzimmer: vom Fenster zu dem rissigen Lehnsessel, dann zu dem schwarzen Fernseher und schließlich zu mir.
»Das möchtest du, ja?«, fragte er mich mit ausdruckslosem Blick.
»Ja«, versicherte ich.
»Du hast mich gefragt, ob ich den Brief gelesen habe. Den Brief, in dem Rose über den Unfall geschrieben hat.«
»Stimmt.«
»Ich habe ihn nicht nur gelesen; ich habe ihn auch abgeschickt.«
»1996?«
Toby überlegte. Es sah aus, als ob er im Kopf nachrechnete. »Wir waren jedenfalls auf der Highschool. Ja, das muss in dem Jahr gewesen sein.«
»Woher hattest du ihn denn?«
»Aus einem Schulblock von Rose.«
»Und wie bist du an den gekommen?«
Toby zögerte. »Ich habe ihn gefunden.«
»Als wir Kinder waren?«
»Nein, in dem Jahr. 1996.«
»Wo gefunden?«
»Im Dachzimmer. In einem Haufen Sperrmüll. In einem Rucksack.«
»In einem Rucksack? Mein Gott, Toby! In einem Rucksack, der Joe gehörte?«
»Nein.« Er wischte mit seinen Fingern einen Schweißtropfen am Haaransatz weg. »In Rose’ Rucksack.«
»In euerm Dachzimmer?«, wiederholte ich ungläubig.
»Ja. Und ich habe keine Ahnung, wie er da gelandet ist. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Aber Rose hatte eine Menge Quatsch in diesen Block geschrieben, das kann ich dir sagen. Es war ihr Geschichtsblock. Anscheinend hat sie sich nicht sonderlich für Geschichte interessiert.«
»Was war sonst noch in dem Rucksack?«
»Ein paar andere Blöcke von ihr. Einige Stifte. Uralte, harte Bonbons. Sechs Jahre alte Jolly Rancher.«
»Und in dem Block war der Brief? Der, in dem sie den Unfall beschrieben hat?«
»Ja. Ich war mir nicht sicher, was ich damit machen sollte.Also schickte ich ihn an Brian, weil ich fand, dass er ihn haben sollte, wenn er ihn denn wollte. Falls er Aaron und Paul für das, was sie getan hatten, zur Rechenschaft ziehen wollte oder so. Ich dachte, dass Rose es so gewollt hätte.«
»Aber ...«, sagte ich und verstummte gleich wieder, denn ich fürchtete, dass meine Stimme zitterte.
»Was, aber ?« Toby sah mich an.
»Aber ... das war nicht alles, was du in dem Block gefunden hast, oder?«
»Nein«, bestätigte Toby, wandte sein Gesicht ab und rieb an einem Ölfleck auf seinem Daumen. »Nein, das war es nicht.«
»Der Looking Glass . Diese Gedichte im Looking Glass. Hast du sie geschrieben?«
»Nein, das war Rose. Ich hab sie auch in dem Block gefunden und dann bei der Zeitung abgegeben.«
»Warum hast du das gemacht?«
»Ich war sechzehn. Ich war noch ein Kind. Als ich den Rucksack entdeckte, habe ich gar nicht richtig begriffen, was das alles zu bedeuten hatte. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war verwirrt. Das verstehst du doch, Nora. Oder? Was du damals getan hast, war auch nicht immer nachvollziehbar. Und ich habe eben geglaubt, dass so zumindest Charlotte auf die Gedichte aufmerksam werden würde. Charlotte, die so dringend herauskriegen wollte, was mit Rose passiert war. Außerdem wollte ich die Sachen nicht für mich behalten.«
»Hast du dich denn nicht gefragt, wie Rose’ Rucksack in euer Haus gekommen ist?«
»Doch, natürlich habe ich mich das gefragt!«, erwiderte er scharf. »Was denkst du denn? Was glaubst du, weshalb ich ihre verschrobenen Texte weggeschickt habe? Doch mit wem hätte ich denn darüber reden sollen? Mit wem konnte ich denn reden? Mit meinem Bruder? Mit meinem Dad? Außerdem hatte ich Angst vor dem, was
Weitere Kostenlose Bücher