Rosenrot, rosentot
meinem traurigen, engen Selbstbild, schätze ich.«
»Aha. Und hat es funktioniert?«
»Ja, das hat es tatsächlich. Es war vielleicht eine furchtbare, erbärmliche Tat, aber auf eine seltsame Weise hat es funktioniert. Durch das, was ich getan hatte, erkannte ich, wie verzweifelt ich war – und dass es nie jemanden kümmern würde, wie traurig ich aussah oder wie still ich geworden war. Dass ich so weit gehen konnte und sich die Welt trotzdem weiterdrehte; dass alle anderen einfach weiterhin versuchten, glücklich zu werden – was natürlich genau das war, was sie tun sollten. Und dass der beste Weg, um nicht mehr verzweifelt zu sein, der ist, nicht mehr zu erwarten, dass andere all das sehen. Dass man sich selbst um sich kümmern muss, egal wie und so gut man kann. Auch wenn das bedeutet, dass man sich von alten Seiten seiner selbst entledigt, ebenso wie von den Leuten, die einen nur so kennen. Und auch wenn man ein bisschen abweisend oder kalt sein muss. Man muss da raus und seine Situation dahingehend verändern, dass man höhere Erwartungen haben darf als bloß die, dass endlich jemand fragt, was mit einem los ist.«
Ich holte Luft und wunderte mich über einige der Worte, die mir eben über die Lippen gekommen waren.
»Hat dir ein Kuscheltherapeut im Krankenhaus geholfen, das herauszufinden?«, fragte Toby skeptisch.
»Nein. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu begreifen. Und ich habe es allein geschafft.«
»Hast du es mal bereut? Bedauert, dass du deiner Mutter Kummer bereitet hast?«
»Ja, dass ich meiner Mutter wehgetan habe, bereue ich. Nicht aber, dass mir einiges klar geworden ist. Also bedaure ich es im Grunde nicht. So ungern ich es auch zugebe, aber das ist die Wahrheit.«
»Dann hast du deinen Frieden damit gemacht? Ist es das, was du sagen willst?«
»Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber man muss ja nicht mit allem seinen Frieden machen, nicht wahr?«
Toby verdrehte die Augen – ob wegen mir oder der Vorstellung, mit allem und jedem seinen Frieden zu machen, konnte ich nicht erkennen. Dann strich er mit dem Finger über die Spiralbindung des Blocks.
»Was, wenn du gestorben wärst?«, fragte er.
»Ich wusste, dass ich nicht sterben würde. Auch wenn ich es mir damals nicht eingestand. Im Hinterkopf war mir wohl klar, dass ich viel zu vorsichtig war, als dass das hätte geschehen können.«
»Und wenn du dich geirrt hättest?« Toby wurde jetzt lauter.
»Habe ich aber nicht.«
»Aber wenn du HÄTTEST ?«
Er schleuderte mir den Collegeblock so hin, dass er gegen meine Schulter prallte und auf meinem Schoß landete.
»Toby ...«, begann ich, hob den Block hoch und hielt ihn fest – nur für den Fall, dass Toby es sich doch noch mal anders überlegen sollte. »Denkst du, Rose hat sich umgebracht?«
Ich konnte seine wütende Miene nicht deuten. Und ich bereute sofort, was ich gesagt hatte, weil es lächerlich war. Eine Selbstmörderin kann sich nicht in einem Koffer begraben.
»Wieso liest du nicht einfach, was sie geschrieben hat?«, fragte er, stand auf und entfernte sich einen Schritt von der Couch.
»Willst du wieder zur Arbeit?«
»Nein, nur nach draußen, frische Luft schnappen. Ich hasse den Geruch hier im Haus.«
»Kann ich ...«
»Nein. Du bleibst hier und liest. Im letzten Teil hat sie diesen ganzen Traumquatsch aufgeschrieben – und den Brief über den Unfall. Sie hat ihn wieder und wieder geschrieben, immer wieder Sachen hinzugefügt. Der zweite Teil ist ihr Tagebuch. Lies den Teil.«
Toby ging nach draußen. Ich blieb auf der leuchtend grünen Couch und las.
4.9.
Morgen haben Aaron und ich unser Einjähriges. Es fühlt sich komisch an, dass es schon so lange geht. Als es anfing, dachte ich nicht, dass es was Ernstes werden würde. Zwölf Monate sind ernst, vermute ich. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich sein Eigentum, und das gefällt mir nicht. Wenn jetzt andere Jungen mit mir reden, ist es anders als vorher. Als wäre ich verheiratet. Und ich mag mich nicht verheiratet fühlen. Vor allem nicht, wenn ich daran denke, dass wir uns sowieso trennen werden, sobald er Ende des Jahres seinen Abschluss hat. Wollen wir uns das ganze nächste Jahr etwas vormachen? Muss ich das ganze Jahr verheiratet sein? Ich schätze, das ist meine Rolle. Mit ihm zum Ball am Schuljahresanfang und am Schuljahresende zu gehen. Eine Träne zu vergießen, wenn er zum College geht. Ihm ein bisschen Übung zu verschaffen, damit er sich nicht blamiert, wenn er die Liebe seines
Weitere Kostenlose Bücher