Rosenrot, rosentot
Job hatte.
»Das weiß ich«, sagte ich. »Du hast so was in mein Jahrbuch geschrieben.«
Charlotte holte hörbar Luft. »Ja, klar. Wie blöd von mir. Meine Schüler sagen mir oft, dass ich mich dauernd wiederhole.«
Den Anflug von Sarkasmus überging ich. Ich hatte nicht vorgehabt, sie anzublaffen, sondern war schlichtweg so kurz nach meiner Ankunft noch nicht für das Thema »Wir an der Highschool« bereit.
Ich sah in die Ecke des Raumes, in der Mrs. Hemsworth’ Aquarium stand. Erstaunlich, dass sie nach all den Jahren immer noch Goldfische hielt. Sie hatte immer fünf bis sechs Stück gehabt. Die Fische starben in regelmäßigen Abständen, und es war Mr. Hemsworth’ Aufgabe gewesen, sie zu ersetzen – genauso wie das Heckenschneiden und das Abtauen des Kühlschranks. Jeden Tag hatte Charlotte das Aquarium nach toten Fischen abgesucht, immer in der Hoffnung auf einen Wochenendausflug zur Zoohandlung. Ich fragte mich, wer nun, da Mr. Hemsworth nicht mehr hier war, die Goldfische ersetzte.
»Ist schon gut«, versicherte ich. Ich wollte mehr tun – die Hand nach ihr ausstrecken, vielleicht ihren Arm berühren, um ihr zu zeigen, dass ich es ernst meinte –, aber meine Hände, die so oft wussten, was sie tun sollten, ehe mein Kopf es begriff, wollten sich nicht rühren.
»Ist schon gut«, wiederholte ich deshalb.
Geist über Materie
Oktober 1990
Weil Freitag war, hatten Charlotte und ich Fischstäbchen zum Abendbrot. Charlottes Mutter war eine ziemlich überzeugte Katholikin. Meine Mutter hingegen tischte selten Fischstäbchen auf. Aber bei Charlotte – wo das Fischstäbchenessen am Freitag etwas war, was man für Gott tat – fühlte sich das Eintunken der Stäbchen in den Ketchup feierlich und besonders an.
Charlottes Mutter war nicht zu Hause. Sie hatte, wie so oft, Nachtschicht im Krankenhaus.
Stattdessen half ihr Dad uns, den Tisch abzuräumen, und als wir fertig waren, fragte sie: »Dad?«
»Ja?«
»Dürfen wir einen Film gucken?«
»Wenn ich die Nachrichten gesehen habe.«
»Danke, Dad.«
Schon immer hat Charlotte Leute häufiger beim Namen oder Titel genannt als andere Kinder, als wäre sie von klein auf auf Kundendienst getrimmt worden.
»Ist Der weiße Hai okay, Nora?«, fragte sie, während sie schon die Popcorn-Maschine in Gang setzte und ein halbes Stück Butter in den Plastikbehälter warf.
»Ja, geht schon«, antwortete ich matt.
Ich hasste Der weiße Hai ! Wir hatten den Film schon mehrmals angesehen, weil er zur Videosammlung eines Verwandten von Charlotte gehörte. Mich verstörte der Film immer: diese schreienden Leute, die panischen Beobachter am Strand, die blutigen Gliedmaßen der Schwimmer, die angespült wurden, die abgetrennten Arme und Beine, die zum Meeresgrund sanken. Charlotte behauptete, dass sie den Film liebte, weil sie sich besonders für Meeresbiologie interessierte. Vielleicht war es ihr mit diesem Interesse sogar ernst, bettelte sie doch jedes Jahr an ihrem Geburtstag bei ihren Eltern darum, dass sie mit ihr zum »Mystic Aquarium« fuhren statt zur Rollschuhbahn oder zu »Chuck E. Cheese’s«. Doch das war für mich nie Grund genug, mich zwei Stunden dem blanken Horror auszusetzen.
Der weiße Hai war – wie Charlottes Geheimnisse des Unbekannten – etwas, mit dem sie davonkam, weil sie einen viel älteren Bruder hatte. Diese Dinge landeten in Charlottes Haus, weil ihr Bruder besagte Bücher selbst ins Haus brachte und weil er zu alt war, als dass die Eltern noch überwacht hätten, was er las oder sah.
Wie immer ertrug ich den Film auch an jenem Abend, aber ich tat mir einen Gefallen, indem ich mich kurz vor der scheußlichen Attacke des Hais auf den grauhaarigen Haijäger davonstahl, sodass ich nicht noch einmal mit anguckenmusste, wie er entzweigebissen wurde und Blut spuckte. Diese Szene löste in mir jedes Mal das Gefühl aus, etwas in mir würde zerbrochen und in Fetzen gerissen, zusammen mit dem armen alten Mann.
Also harrte ich im Bad aus, wo ich erst einmal am Waschbecken blieb und Mrs. Hemsworth’ Muschelseifen in dem Glas nach ihrer Form sortierte und dann mein Spiegelbild eingehend betrachtete. Dabei hörte ich Charlotte zu, die unten dem weißen Ungetüm zubrüllte: »Hast du noch immer nicht GENUG ?«
Ich seufzte, setzte mich aufs Klo und zog mir die Jeans runter. Voller Entsetzen entdeckte ich einen vertrauten Fleck. Es war erst meine zweite Periode. Die erste war drei Monate vorher gewesen – und ein richtiger Schock für mich. Ich war
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