Rosenrot, rosentot
Doppelgängerin hätte! Ich stehe vorn in der Klasse, und die gucken raus und sehen mich auf dem Parkplatz eine rauchen. Nein, noch besser: Meine Doppelgängerin übernimmt den Unterricht, und ich gehe eine rauchen.«
Dann widmete Charlotte sich wieder ihren Korrekturen. Während sie korrigierte, nahm ich noch ein paar Bücher aus dem Karton und begann, sie durchzublättern.
»Hier sind sogar noch deine alten Notizen drin«, bemerkte ich.
»Ja, ich weiß. Ist das nicht irre?«
»Violette Tinte, wie niedlich. Ist das heute das erste Mal, dass du die alten Bücher wieder hervorholst?«
»Äh ... nein. Ich glaube, so ein oder zwei Mal zwischendurch habe ich sie schon durchgesehen. Immer dann, wenn mir nach Übersinnlichem war.«
Charlottes roter Stift huschte über ein anderes Blatt, dann über ein drittes. Ich durchwühlte weiter den Karton und sahmir die vage vertrauten Titel an: Kosmische Verbindungen , Seelenreisen , Geist über Materie .
»Oh verdammt!«, schrie Charlotte ihren Papierstapel so laut an, dass ich zusammenzuckte. »Diese Kinder treiben mich noch in den Wahnsinn.«
»Wer? Was? Noch mehr Mundgeruch-Sätze?«
»Nein. Aber dieses Mädchen schreibt darüber, wie sie das Bett ihrer Mutter in Brand steckt.«
»Oh. Ich schätze, das ist schlimmer.«
»Die kommt dauernd mit solchem Kram. Vor ein paar Wochen beschrieb sie, wie sie sich ihre Zehen abschneidet. Die will mich doch verarschen! Entweder spiele ich die doofe Lehrerin und weise den Schulpsychologen auf die Gefahr hin, dass sie psychotisch sein könnte, oder ich riskiere, mich verantwortlich zu fühlen, falls sie tatsächlich das Bett ihrer Mutter abfackelt.«
»Du kannst den Text auch wegwerfen, ihr eine gute Note geben und sagen, du hast versehentlich etwas auf dem Papier verschüttet. Dann wärst du wenigstens den Beweis los.«
»Du bist ja krank«, murmelte Charlotte. »Wieso bist du bloß keine Englischlehrerin?«
»Und? Was willst du machen?«
»Das weiß ich noch nicht. Bei diesem Mädchen bin ich mir total unsicher. Was gäbe ich nicht für eine Suizidankündigung in einem Tagebuch! Das ist wenigstens eine klare Ansage, und jeder kennt die Regeln, die in einem solchen Fall gelten.«
Im ersten Moment war ich stumm vor Schreck.
»Na ja ...« Ich suchte nach einer prompten, harmlosen Erwiderung, doch Charlotte war nicht entgangen, dass sie mich schockiert hatte.
»Entschuldige, das war unüberlegt. Ich wollte nicht gefühllos wirken. Ich meinte nur, dass man bei solchen Dingen nie weiß, was man zu tun hat. Aber bei diesem Mädchen habe ich das Gefühl, sie will mich absichtlich verunsichern.«
»Hmm, eigentlich ist das, was sie schreibt, ja gar nicht so anders als eine Selbstmorddrohung. Beides heißt doch, dass sie im Grunde nicht weiß, was sie tut oder warum sie es tut.«
»Ja, das ist mir schon klar.« Charlotte warf ihren Stift und die Papiere auf den Couchtisch und verschränkte die Arme. »Nur hilft mir das nicht bei der Entscheidung, wie ich mich verhalten soll.«
Sie runzelte die Stirn und sah mich ein bisschen verlegen an. Ich zog ihr Glas zu mir herüber und schenkte Wein nach.
»Bittest du mich etwa um Rat?«, fragte ich.
»Ja. Du nimmst es mir hoffentlich nicht übel, aber ich schätze, ja.«
Ich trank einen Schluck und bemühte mich, nicht das Gesicht zu verziehen. Sieben-Dollar-Kopfschmerzwein.
»Ich denke, du musst dich auf dein Gefühl verlassen«, sagte ich. »Wenn du dir sicher bist, dass dieses Mädchen eine Zimtziege ist, die dich nur auf die Palme bringen will, dann mach gar nichts. Aber falls du irgendwelche Zweifel hast, zeig ihr lieber, dass sie dir nicht egal ist, und lass sie erkennen, wie cool du bist.«
Charlotte schnippte eine Zigarette aus ihrer Schachtel. »Darf ich dich mal was Persönliches fragen?«
»Nur zu.« Ich leerte das Glas.
»Hast du damals gedacht, dass es allen egal war?«
»Also, ich möchte mich ehrlich nicht vor der Antwort drücken, aber ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich damals dachte. Wahrscheinlich habe ich überhaupt nicht viel nachgedacht. Lange Zeit – und ich meine, eine richtig langeZeit, noch bis vor unserem Abschluss – kam es mir vor, als wäre das gar nicht ich gewesen. Als wäre das irgendeine abgedrehte Version von mir gewesen, die für ein, zwei Monate Ferien von der Realität gebraucht hat.«
»Mhm. Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Einige von meinen Schülern im letzten ... ach, egal. Sagen wir, ich kenne diese Sorte Ferien ziemlich
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