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Rosenrot

Titel: Rosenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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entgegen.
    Eine Stoffpuppe, flatternd im großen Nichts.
    Flatternd und flammend.
    Sie kam wieder hoch. Die Kraft, die sie trieb, hatte nichts mit Willen zu tun. Sie war größer. Sie war eine Urkraft.
    Zwischen den Baumstämmen erkannte sie das Meer. Weiße Schaumkronen gegen das Schwarze. Darüber ging der Himmel in Schwarz über. Wolken ballten sich zusammen und verfinsterten sich zu Gewitterwolken. Sie drängten sich aneinander, als wollten sie um jeden Preis ihrem eigenen inneren Dunkel entfliehen. Sie stießen zusammen. Der erste Blitz erleuchtete den Wald. Dieses eisblaue Licht, das ein Bild in die Netzhaut ätzt, ein Bild mit ganz anderen Farben.
    Und das Bild war eine Lichtung.
    Dann war sie blind, geblendet. Sie stolperte in Richtung des Erinnerungsbilds. Es blitzte in grellem Orange gegen die Hirnrinde.
    Vermutlich war sie am Ziel. Keine Zweige peitschten mehr ihr Gesicht. Keine Nadeln stachen mehr in ihre bloßen Arme.
    Sie schloss die Augen. Ließ das Bild verblassen, bis alles vollkommen schwarz war. Dann öffnete sie wieder die Augen.
    Es war kohlschwarz. Pechschwarz. Es war rabenschwarz, kohlrabenschwarz, nachtschwarz.
    Sie wartete auf den nächsten Blitz. Eine Stimme sagte: Warte auf den nächsten Blitz. Dann siehst du wieder. Ein neues Erinnerungsbild wird in deine Netzhaut eingeprägt sein. Es wird verblassen, genauso schnell, wie deine Erinnerungen verblassen. Aber du kannst seinem Abdruck eine Weile folgen.
    Wie du es jetzt tust.
    Der Blitz kam.
    Es war eine Lichtung.
    Eine Kiefer, eine Fichte, eine Birke, eine Espe und eine kleine Eiche. Und ein Apfelbaum der Sorte Ingrid-Marie.
    Etwas war in den Boden getreten.
    Aber das konnte sie nicht mehr erkennen.
    Sie folgte der inneren Karte des flammenden Erinnerungsbilds. Die Finger tasteten sich an der Erde entlang. Keine Sicht mehr, höchstens verschwommene Wahrnehmung.
    Es zerfiel in ihren Händen. Klebrig, als wäre eine Schnecke darüber gekrochen. Oder als hätte es ein ewiger Regen hinabgezwungen, dem flammenden Kern der Erde entgegen.
    Fragmente. Zerfallende, nässezerfressene Fragmente einer Tageszeitung. Sie las: ›Der größte in diesem Jahr gefangene Dorsch wurde am Donnerstagvormittag von Anton Kramström aus Dödevi aus dem Wasser gezogene
    Dödevi.
    Da kam der Blitz und schenkte ihr die Hütte.
    Sie lag dreißig Meter entfernt auf der anderen Seite des kleinen Wäldchens. Sie schien wie von einem inneren Feuer zu leuchten.
    Und das innere Feuer war das ihre.
    Sie machte sich auf. Durch die Dunkelheit. Die ersten Regentropfen. Von der Seite. Vom Meer. Als sollte die Insel überspült werden. Die Welt überspült werden.
    Die Veranda. Ein paar leere Bierdosen schepperten im Wind. Ein erloschenes Windlicht.
    Und kein Licht in der Hütte.
    Schon da begriff sie.
    Schon da begriff sie, dass sie zu spät kam. Es hatte zu lange gedauert. Sie hatte zu langsam gedacht.
    Sie berührte die Tür. Sie war offen. Der Griff zur Dienstwaffe war mehr Reflex als durchdachte Handlung. Denn die Erkenntnis leuchtete mit einem eigenen Licht durch die pechschwarze Finsternis: Es würde keiner da sein.
    Kein Lebender.
    Sie war schon drinnen. Das hohle Gespenst der Berufsroutine lenkte ihre Schritte. Die völlig durchnässten Verbände ihrer Hände schleckten an der Waffe. Metallisch kühle Feuchtigkeit durch die gelockerten Verbände.
    Ein Blitz erleuchtete das Innere der Hütte. Als sie die Au-
    gen schloss und das eingravierte Erinnerungsbild wiedererstehen ließ, sah sie einen Fernseher. Das war alles.
    Auf dem Dach war keine Fernsehantenne.
    Das Erinnerungsbild flammte in Orange. Sie studierte es im Detail. Vor dem Fernseher eine kleine Dose.
    Ein Fernsehspiel.
    Das Bild verblasste. Es ging immer schneller. Bald würden keine Erinnerungsbilder mehr da sein. Alles verflüchtigte sich immer schneller.
    Sie war im Begriff zu verschwinden. Ein Mensch ohne Erinnerungsbilder ist kein Mensch mehr.
    Nächster Blitz.
    Und jetzt war der Boden übersät. Übersät mit Spielzeug. Die ganze Hütte war eine Spielhütte.
    Es war ein Hohn. Noch eine Spucksalve mitten ins Gesicht. Zäher grüner Rotz rann übers Gesicht.
    Spielzeug, zurückgelassen, damit sie stolperte. Stolperte auf ihrem Weg durch den dunklen Wald.
    Weit, weit entfernt vom rechten Weg.
    Und sie stolperte, sie zertrat Spielzeugautos und Legoteile, und sie fühlte nichts. Gar nichts. Außer dass diese große Leere im Begriff war, durch ihre Haut hinauszudringen und sie zu vernichten und sich mit der Luft um

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