Rosenrot
Gespenster sie in dieser Nacht heimsuchen, kann man sich nicht vorstellen. Es ist ganz einfach eine Höllennacht. Wahrscheinlich kann sie sich nicht bewegen. Sie bleibt auf dem Fußboden. Irgendwann am nächsten Tag ist sie in der Lage, sich zu bewegen. Jetzt geht es darum, Lundmark zu finden. Sie muss ihn jagen, obwohl sie versteht, dass es genau das ist, was er will. Sie will die A-Gruppe nicht mit hineinziehen. Dies ist ihre eigene Jagd. Ihr eigenes schmerzlich verdrängtes Leben. Sie weiß, dass wir die Nummern, die sie von ihrem Handy aus anruft, herausfinden werden. Also ruft sie nicht von ihrem Handy an, sondern schmeißt es an die Wand, dass es zu Bruch geht. Von wo kann sie anrufen? Sie hat die Wohnung auf eigene Faust ausfindig gemacht. Es ist möglich, dass wir sie nicht finden. Wir nehmen Bo Ek vielleicht nicht ins Kreuzverhör. Das Risiko ist geringer. Also benutzt sie das Telefon in der Wohnung. Sieben Anrufe. Der vorletzte ist bei Lotte Kierkegaard in Kopenhagen. Von ihr bekommt sie die letzte, die Krankenstation in Slangerup. Und davor? Noch fünf. Jetzt identifiziert. Der Reihe nach: Eins: Bo Ek, bei sich zu Hause. Vermutlicher Zweck: Mehr darüber herauszubekommen, wo Lundmark sein kann. Keine Antwort. Er ist nicht zu Hause. Zwei: Kommissar Ernst Ludvigsson, bei sich zu Hause. Vermutlich derselbe Zweck. Auch dort keine Antwort. Er ist im Wald und sammelt Pilze. Es ist zutiefst frustrierend. Drei: Altenpflegeheim Pärlan in Västra Frölunda. Dort sitzt Dag Lundmarks Vater, der Pastor. Das Gespräch dauert zwölf Minuten. Vier: Länskriminalpolizei in Västra Götaland. Das Gespräch dauert vier Minuten. Und fünf: Internationale Auskunft von Telia. Das Gespräch dauert exakt sechsunddreißig Sekunden. Dies ist der Anruf vor dem bei Lotte Kierkegaard. Wahrscheinlich hat Kerstin dort nach Lottes Nummer gefragt. Hatte sie ihren Sohn verdrängt, hatte sie bestimmt auch die Telefonnummer verdrängt. Das mit der Nummer war begreiflich.
Das mit dem Sohn nicht.
Im Pflegeheim Pärlan in Västra Frölunda wusste man nicht, wer das Gespräch angenommen hatte. Die Tagesschicht war inzwischen von der Abendschicht abgelöst worden. Aber Hultin konnte mit Lundmarks Vater Artur sprechen. Er war nicht so senil, wie Hultin befürchtet hatte. Ganz und gar nicht, genaugenommen. O ja, er hatte mit Kerstin gesprochen. Er hatte sie so gern gemocht, sie war das Beste, was seinem Sohn passiert war. Aber er wusste sehr gut, dass Dag sie nicht würde halten können. Nicht so, wie er trank. Nicht so, wie er Frauen behandelte. Er brauchte nur an Anna zu denken. Was Kerstin gewollt hatte? Sie wollte hören, ob er wusste, wo Dag war. Aber er hatte keine Ahnung, er hatte seit Jahren nichts von seinem Sohn gehört. Leider. Aber sie hatten sich eine Weile unterhalten. Ungefähr zehn Minuten. Sie schien verwirrt zu sein. Redete von einem Sohn. Einem Enkel. Doch, seinen Sohn hatte er selbst großgezogen, das war in jener Zeit nicht so üblich. Es war vielleicht akzeptabler für einen Pastor als für einen Fabrikarbeiter oder einen Direktor. Ja, er war Pastor gewesen. Pastor Artur Lundmark in Haga. Doch, er hatte mit seinem Sohn viel in der Bibel gelesen. Gab es bessere Geschichten? Außerdem jagten sie einem jungen Menschen ein wenig nützlichen Schrecken ein. Aber sein Sohn war nicht richtig so geworden, wie er es gehofft hatte, und das war eigentlich nicht mehr, als dass er ein glücklicher und guter Mensch geworden wäre. Er war unglücklich und böse geworden. Ja, böse und schlecht... Vielleicht nicht böse, aber ihm fehlte etwas. Die Fähigkeit zur Empathie vielleicht, die Fähigkeit, aus sich selbst herauszutreten und sein Handeln von außen zu betrachten. Harte Erziehung? Nja. Gottesfurcht war wichtig. Ein Gefühl für strenge Moral. Für grundlegende Werte.
Hultin bedankte sich und legte auf. Einen Moment saß er da und ließ seinen Gedanken Zeit, sich zu ordnen.
Anna? Dachte er dann.
Anna, geborene Högberg?
Die Exfrau.
Es dauerte eine Weile, aber schließlich hatte er sie eingeordnet. Sie hieß weder Anna Högberg noch Anna Lundmark, sondern Anna Strömbäck und war wieder verheiratet. Sie hatte in ihrer neuen Ehe drei Kinder und wohnte noch in Göteborg. In Orgryte, dem Djursholm von Göteborg.
Doch sie meldete sich nicht.
Hultins Gedanken gingen mit ihm durch.
War Dag dort?
Meldete sie sich deshalb nicht am Telefon?
Verbarg Dag Lundmark sich mit seinem Sohn bei seiner Exfrau und wartete auf seine Exverlobte?
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