Rosenwahn
am Leben war.
Angermüller trat neben die aufgebahrte Frau und suchte nach ihrem Puls.
»Sie lebt«, stellte er erleichtert fest. »Veranlasst du bitte alles Notwendige? Ich muss mich um Derya kümmern«, bat er seinen Kollegen. Jansen nickte und zückte sogleich sein Handy.
Leichenblass und mit schreckgeweiteten Augen sah Derya ihn an, als Angermüller zu ihr nach draußen kam. Er holte sein Taschenmesser heraus und zerschnitt die Stricke, die sie um Arme und Beine fesselten. Sie ließ es teilnahmslos geschehen. Dann setzte er sich neben sie, legte einen Arm um sie und streichelte ihr beruhigend über die Hände.
»Alles in Ordnung, Frau Nachbarin?«, fragte er sie mitfühlend. Als hätte jemand die Schleusentore geöffnet, begann Derya hemmungslos zu schluchzen und klammerte sich Halt suchend an Angermüller.
»Ist ja gut«, murmelte der und strich ihr sanft über den Rücken. Es dauerte eine ganze Weile, bis Derya wieder etwas ruhiger wurde. Sie löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf.
»Was ist mit Gül?«
Immer noch unter Tränen stellte sie diese Frage.
»Sie lebt. Der Arzt ist schon unterwegs.«
»Und was ist mit ihm?«, flüsterte sie dann. Das Entsetzen über das soeben Erlebte stand ihr ins Gesicht geschrieben. Angermüller sah sie ernst an und schüttelte nur kurz seinen Kopf. Da schlug Derya die Hände vor die Augen und begann wieder leise zu weinen. Erneut versuchte er, sie zu trösten und zu beruhigen, was ihm nur in Maßen gelang.
»Sei ganz ruhig. Wir sind ja hier, wir sind bei dir. Es kann dir nichts mehr passieren.«
Doch er ahnte, dass es weniger Angst als der Schock war, der Derya in den Gliedern saß. Ihre Zeugenvernehmung würde man nachholen müssen. Glücklicherweise dauerte es nicht mehr lange, bis der Notarzt eintraf und man sich sogleich um sie kümmerte. Da sie auf keinen Fall ins Krankenhaus, sondern lieber nach Hause wollte, bekam sie nur eine beruhigende Spritze. Ein Streifenwagen brachte sie zurück nach Lübeck. Angermüller versprach Derya, sich um ihren Wagen zu kümmern. Ihm fiel Frau Trede ein. Die hatte zum Glück noch keine Lösung für ihr ausgebliebenes Büffet gefunden und war überglücklich, als Angermüller ihr telefonisch die Lieferung in einer halben Stunde ankündigte. Er wusste zwar, das würde Ärger geben, aber er nahm es auf seine Kappe, einfach zwei Kollegen von der Streife mit diesem ungewöhnlichen Auftrag nach Bliestorf zu schicken.
Inzwischen wimmelte es von Fahrzeugen und Menschen auf der Lichtung. Das Gelände war sofort weiträumig abgesperrt worden. Auch ein Vertreter der Staatsanwaltschaft war erschienen, um sich vor Ort ein Bild von den Geschehnissen zu machen. Gül wurde auf allerschnellstem Wege ins Krankenhaus gebracht, wo ihr umgehend der Magen ausgepumpt werden sollte, nachdem man in der Hütte auf diverse Packungen schwerster Morphinpräparate und Opioide wie MST, Dicodid und Dolantin gestoßen war.
Die Kriminaltechnik sicherte die zahlreichen Spuren in dem kleinen Innenraum, wobei Ameise es nicht unterlassen konnte, sich mehrfach über die ekelhafte Sauerei zu beschweren, die der Täter mit seiner Selbsttötung mittels Schuss durch das Kinn in den Kopf verursacht hatte. Bis Frau Dr. Ruckdäschl ihn nachdrücklich zur Ordnung rief und anmahnte, er solle sich gefälligst wie ein Profi benehmen.
Angermüller und Jansen hatten sich inzwischen außerhalb des Häuschens umgesehen. Der umgebende Zaun war an vielen Stellen schadhaft und das Holzgatter vor der Einfahrt gebrochen. Das ganze Gelände machte einen ziemlich verwilderten Eindruck, und es schien, als ob es schon seit einigen Jahren nicht mehr von der Baumschule genutzt wurde. Auf einmal stieg Angermüller der betörende Duft in die Nase, den er inzwischen unter hundert anderen Düften sofort wiedererkennen konnte. An die Rückwand der Hütte lehnte sich, schwer an ihren vielen zartrosa Blüten tragend, eine Rosa alba der Sorte Félicité Parmentier.
Kapitel XII
Der Kriminalhauptkommissar fühlte sich hellwach, als er kurz nach Mitternacht Deryas Wagen in der kleinen Straße hinter dem Burgfeld abstellte. Obwohl es eine ziemlich kühle Nacht war, setzte er sich mit dem restlichen Barolo aus der Flasche, die er tags zuvor geöffnet hatte, draußen auf die Terrasse. Der Himmel war klar. Je länger er im Dunkel saß, desto mehr Sterne konnte er mit bloßem Auge erkennen. Doch es fiel ihm schwer, sich den Tiefen der besternten Unendlichkeit zu überlassen. Zu sehr
Weitere Kostenlose Bücher