Rosenwahn
aufgewühlt war sein Inneres von den Ereignissen der letzten Stunden.
Die Bilder in seinem Kopf jagten sich. Die Lichtung im Wald, Derya gefesselt vor der Hütte, die aufgebahrte Gül zwischen all den Kerzen und Blüten und der Mann, dessen Werk das alles war, der mit zerfetztem Schädel daneben lag. Das Rätsel um dessen Persönlichkeit, um seine Motive, ließ Angermüller keine Ruhe. Schließlich hatte er den Mörder, der sich nun selbst gerichtet hatte, persönlich gekannt, nicht gut, aber immerhin hatte er einmal mit ihm bei Tisch gesessen. Unvorstellbar wäre ihm in diesem Moment ein Zusammenhang zwischen den toten Mädchen und diesem Menschen erschienen. Diese Erkenntnis hinterließ beim Kommissar ein ungutes Gefühl. Da war er wieder, der schmale Grat, auf dem sich Gut und Böse entschied. Gut und Böse? Davon konnte man in diesem Fall eigentlich gar nicht sprechen. Eher ging es um Licht oder Finsternis in einer gequälten Seele.
Dann tauchte vor seinem inneren Auge die üppig blühende Rosa alba auf, die sie hinter der Hütte gefunden hatten. Schon vermeinte er, wieder ihren einzigartigen Duft wahrzunehmen. Die Vermutung, dass sich zu Füßen der Rose ein weiteres Grab verbarg, hatte sich binnen Kurzem bestätigt. Frau Dr. Ruckdäschl wollte sich gleich am Vormittag um den Zahnstatus bemühen. Dann würden sie wissen, ob sie tatsächlich auf die sterblichen Überreste von Selma Altül gestoßen waren. Aber Angermüller war sich dessen jetzt schon sicher. In der Hütte hatten sie einige Aufzeichnungen gefunden, eine Art Tagebücher, mit einem ziemlich deutlichen Hinweis auf die Tote hinter dem Häuschen. Bei dem Gedanken an Selmas Vater lief dem Kommissar ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Noch vor einigen Stunden, bei ihrem Besuch am Nachmittag, hatte sich der Mann an die Hoffnung geklammert, dass seine Tochter am Leben sei. So schrecklich die Gewissheit über Selmas Schicksal auch war, vielleicht verschaffte ja die Möglichkeit zu trauern seiner Seele wieder mehr Ruhe.
Langsam spülte Angermüller den letzten Schluck Wein durch seinen Mund, während seine Erinnerung bei den vergangenen Stunden verweilte. Deryas Alleingang hätte sehr böse enden können, aber immerhin hatte sie wahrscheinlich dadurch Gül das Leben gerettet. Der Notarzt meinte, sie könnten frühestens am Montag mit der jungen Frau reden. Gül war eine wichtige Zeugin. Sie war wahrscheinlich die Einzige, die noch mehr Licht ins Dunkel der Beziehungen des Täters zu seinen Opfern bringen konnte.
Am Montag würden sie auch Deryas Vernehmung durchführen. Angermüller hoffte, dass seine Nachbarin ohne nachhaltiges Trauma aus diesem Erlebnis hervorgehen würde. Schließlich war ihr Leben bedroht worden, von einem Menschen, den sie kannte, den sie sogar für einen Freund hielt. Und außerdem hatte dieser Mensch mindestens drei junge Frauen auf dem Gewissen. Jäh zu erkennen, dass sich hinter der Person, die sie mochte und der sie vertraute, so viel Schreckliches, Bedrohliches verborgen hatte, und dies zu verkraften, war sicher nicht einfach.
Endlich spürte Angermüller eine gewisse Schwere in seinem Körper. Gähnend verließ er die Terrasse und lag bald darauf in seinem Gästezimmer in einem unruhigen Schlaf.
Der Kriminaldirektor hatte es vorgezogen, am gestrigen Abend nicht mehr zum Tatort zu fahren, aber hartnäckig, wie er bei diesem Thema war, hatte er die Staatsanwaltschaft von der Notwendigkeit einer Pressekonferenz überzeugt. Seit den Veröffentlichungen am Tag zuvor, unter dem Tenor Rosenmörder, Rosenmädchen, Rosenmorde, und was man sich sonst noch an Kombinationen ausdachte, war das Medieninteresse bis zu den überregionalen Zeitungen und Sendern angewachsen. Schon lange nicht mehr war eine Pressekonferenz in der Lübecker Bezirkskriminalinspektion derart gut besucht, dass der dafür vorgesehene Raum aus allen Nähten platzte.
Auch Angermüller durfte am Sonnabendvormittag mit den anderen vor den Mikrofonen sitzen, da der Kriminaldirektor zwar der kommissarische Leiter der Mordkommission, Angermüller aber der Ausführende vor Ort war. Obwohl die Auswertung ihrer Funde und Ermittlungen noch lange nicht abgeschlossen war, konnten sie die meisten Fragen der Journalisten zufriedenstellend beantworten, sie konnten einen Täter vorweisen, sie hatten zwei Menschenleben gerettet, sie waren Helden. Die Presse würde nur Gutes über die Lübecker Kripo zu berichten wissen. Harald Appels war hoch zufrieden.
Angermüller
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