Rosenwahn
plötzlich, nachdem sie ein ganzes Stück weit gekommen waren, und hielt den Wagen an. Sie schauten aus den offenen Seitenfenstern in die schmale Öffnung zwischen den Bäumen. »Als alter Indianer würde ich sagen, hier ist vor Kurzem der Weiße Mann mit seinem Blechross entlang geritten.«
Deutlich waren die von Reifenprofilen frisch aufgerissene Spur im feuchten Untergrund und das niedergedrückte Gras dazwischen zu erkennen. Sie bogen in den engen, von Grün überwucherten Pfad ein. Ganz behutsam lenkte Jansen den Wagen über den unebenen Boden. Sie sprachen nichts mehr. Konzentriert waren ihre Augen auf den Verlauf der Strecke vor ihnen gerichtet. War es die ganze Zeit geradeaus gegangen, änderte der Weg auf einmal seinen Verlauf und machte einen weiten Bogen nach rechts. Der Wald wurde lichter. Sie entdeckten beide gleichzeitig den roten Lieferwagen, der vielleicht 20 Meter vor ihnen abgestellt war. Sofort setzte Jansen ein paar Meter zurück und stellte den Motor ab. Für ihr weiteres Vorgehen war keine große Absprache nötig.
Die Kommissare näherten sich vorsichtig Deryas Wagen und fanden ihn leer. Der Schlüssel steckte noch. Inzwischen hatten sie auch das umzäunte Gelände auf der Lichtung ausgemacht, wo hinter dem Zaun der weiße Kastenwagen parkte. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die mit hohem Gras und vereinzelten jungen Tannen bewachsene Fläche in ein goldenes Licht. Das Holzhäuschen mit der kleinen Bank davor hatte etwas Romantisches. Ein leichter Wind rauschte durch die Baumwipfel, ein Raubvogel ließ seinen fremdartigen Ruf ertönen und auf der Bank saß eine Frau. Abendfrieden.
Unschwer hatte Angermüller an den karottenroten Haaren erkannt, wer dort saß. Ihre Waffen im Anschlag und nach allen Seiten sichernd, näherten sich die Beamten der Einfriedung und duckten sich unwillkürlich hinter dem weißen Kastenwagen, den sie jetzt erreicht hatten, als ein Mann aus der Tür der Hütte nach draußen trat. Angermüller hielt verblüfft die Luft an, als er sah, wer da auf der Bank neben Derya Platz nahm und ihr einen Trinkbecher darbot.
Ein paar Wortfetzen schallten zu ihnen herüber. Erst jetzt nahmen sie wahr, dass Derya die Hände auf den Rücken gebunden waren und ein Strick um ihre Fußgelenke sie am Weglaufen hinderte. Der Mann legte seinen Arm um Deryas Schulter und redete auf sie ein. Sie schüttelte den Kopf. Da hielt er ihn mit einer Hand fest und versuchte mit der anderen, ihr die Flüssigkeit aus dem Becher gewaltsam einzuflößen. Angermüller und Jansen sahen sich an. Sie mussten handeln. Geduckt rannten sie auf das Gelände, einer auf die rechte, der andere auf die linke Seite, und suchten Schutz hinter Tannen und Gebüsch. Das war so blitzschnell gegangen, dass der Mann nichts bemerkt hatte. Außerdem war er zu sehr damit beschäftigt, Derya zum Trinken zu zwingen. Die würgte, spuckte und jammerte.
Jetzt waren sie nahe genug.
»Polizei!«, rief Angermüller und hielt ebenso wie Jansen seine Dienstpistole auf den Mann gerichtet. »Stehen Sie langsam auf und nehmen Sie die Hände hinter den Kopf!«
Erstaunt drehte der Mann seinen Blick in ihre Richtung, stellte den Becher auf der Bank ab und tat, wie ihm geheißen. Die Beamten richteten sich zu voller Größe auf und begannen langsam mit erhobenen Waffen auf ihn zuzugehen. So schnell, dass sie es erst realisierten, als es zu spät war, drehte er sich plötzlich auf dem Absatz um und verschwand durch die direkt neben ihm liegende Tür in der Hütte. Einen Moment später zerriss ein Schuss die Stille des Waldes. Derya, die nur noch wie gelähmt dagesessen hatte, seitdem Angermüller und Jansen so plötzlich vor ihr aufgetaucht waren, stieß einen lauten Entsetzensschrei aus.
In großen Sprüngen setzten die Polizisten zu dem Holzhäuschen und drückten sich, Deckung suchend, rechts und links der Tür mit dem Rücken gegen die Wand. Als Erster glitt Jansen mit gezückter Waffe hinein, Angermüller folgte. Ihnen bot sich ein gespenstischer Anblick. Überall brannten Kerzen, der Boden war über und über mit Rosenblättern bedeckt. Auf einer Art Tisch lag ein Mensch. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie im Halbdunkel des flackernden Kerzenscheins Einzelheiten erkennen konnten. Eine Frau lag da, bis zum Hals mit einem weißen Tuch bedeckt und ebenfalls von Rosenblättern und -blüten überhäuft. Auf dem Boden lag ein Mann, neben ihm ein Jagdgewehr. Von seinem Kopf war nicht mehr viel übrig und es war klar, dass er nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher