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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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entdeckte sie den Fleck, wo sie mit Poe geschlafen
hatte. Fegen. Es war grün und sonnig und so angenehm, der Hirsch, die Bäume und
die fernen Hügel, aber das war alles, was es hier gab, was der Ort zu bieten
hatte. Sie begriff nicht, warum ihre Mutter hergekommen war, begriff nicht,
warum ihre Mutter Henry English je geheiratet hatte.
    Natürlich machte sie auch Kompromisse, doch nicht so wie ihre
Mutter. Reich und früh geheiratet. Wenn sie in dieser Weise drüber nachdachte,
war es ein Schlag in den Magen. Sie hatte ja auch Jura eigentlich nicht machen
wollen, sie war mehr der Typ fürs Kunststudium oder für Komparatistik, doch
sich diesen Cliquen anzuschließen war für sie undenkbar bei ihrer Familiensituation,
da kam das nicht in Frage. Es wäre auch sehr schön gewesen, sich beim
Friedenscorps zu melden und zu schauen, wo sie landen würde, sollte sie der
Wind davontragen, statt einer festen Flugbahn. Wie Siddharta, wie der Stein,
der durch das Wasser fällt. In ein paar Jahren würde sie den Jura-Abschluss in
der Tasche haben und eine Versicherungspolice – selbst wenn dann mit Simon
alles schiefginge, ihr Vater wär versorgt und Isaac genauso. Dieser Plan war
gut, und seine Absicherung war es auch. Nichts war vollkommen, aber sie konnte
gut schlafen.
    Wenn man sah, wie sie ihr Leben eingerichtet hatte, war es doch
verblüffend, was bei ihrer Mutter abgelaufen war. Aus irgendeinem Grunde hatte
sie entschieden, Henry English wäre ihre beste Chance. Du blöde Kuh, dass du so
denkst, fand Lee, du bist ein fürchterlicher Mensch. Aber das änderte nichts an
den Tatsachen. Sie hatte es viel schwerer gehabt, dachte Lee. Mit
einunddreißig, unverheiratet, und die Familie nicht im Lande. Henry English
setzt sich in einer Spelunke neben sie, ein ehrlicher, solider und
berechenbarer Mann. Ein Mann, der stolz auf sie ist, der sie nie verlassen
würde, der genau weiß, sie ist mehr, als er verdient. Dann bricht im Mon-Tal
alles auseinander, er verliert die Arbeit, Schluss mit solide, und dazu noch
die zwei Kinder. Er ist zwei Jahre lang arbeitslos, dann geht er für drei Jahre
nach Indiana und schickt Geld, bis er den Unfall hat.
    Als du aufs College kamst, veränderte sich alles noch mal. Ihre
Launen werden ausgeprägter – jedes Hoch wird höher, jedes Tief wird tiefer. An
dem Sonntag nach der Abschlussfeier gehen alle in die Kirche, und am selben
Nachmittag ist sie verschwunden. Und zwei Monate darauf bist auch du
weggegangen, nach New Haven.
    Ihre Mutter war, das wusste sie, vor ihrem Vater schon einmal verlobt
gewesen, mit einem Musikstudenten von der Carnegie Mellon in Pittsburgh, doch
der hatte die Verlobung in letzter Minute aufgelöst. Und lange vorher hatte
ihre Mutter sich von der Familie in Mexiko getrennt, sie kam aus reichem Hause,
war aber zu stolz, dorthin zurückzukehren, und zum Zeitpunkt ihres Todes hatte
sie schon fünfundzwanzig Jahre nicht mehr mit ihnen gesprochen. Manchmal dachte
Lee an diese Seite ihrer Herkunft, aber ihr Interesse blieb rein theoretisch.
Sie zu treffen würde keines der Geheimnisse aufklären, die sie gern gelüftet
hätte. Eher fürchtete sie, dass ein solches Treffen sie nur deprimieren würde.
    Letzten Endes war es unmöglich zu sagen. Ihre Mutter musste ein
Gefühl von Einsamkeit, Verzweiflung, von der drohend ablaufendenZeit
beschlichen haben, dass sie Henry English heiratete. Eine wunderschöne Frau mit
einem Master-Abschluss in Musik, im Fach Komposition. Doch andererseits war sie
schon einunddreißig, lebte nicht in ihrem Heimatland und hatte nichts, was man
Familie nennen konnte, außerdem nur wenig Sicherheiten, und dann kam ein Mann,
der sie niemals verlassen würde, eine gute Arbeit hatte, für sie sorgen wollte.
Wie viel schwieriger es für sie wäre, wenn sie einen reichen Mann heiratete,
das wusste sie. Oder vertrat womöglich Mary English, geborene María Salinas,
solche Meinungen wie Lees marxistische Freunde in Yale – von Solidarität und
edlen Arbeitern und der bevorstehenden Revolution? Sie hatte einen Arbeiter
gewollt, als endgültigen Bruch mit der Familie. Solche Leute gab es durchaus
hier im Tal, zum Beispiel Mr. Painter, den Geschichtslehrer an der Highschool
von Buell, der Lees Empfehlungsbrief geschrieben hatte, der erzählte ihr, er
sei ins Tal gekommen, um den Sozialismus in die Stahlwerke zu tragen, er war
selbst zehn Jahre lang ein Stahlarbeiter gewesen, verlor den Job und wurde
Lehrer. Macht an der Cornell den Abschluss und wird

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