Rost
Stahlarbeiter. »Es gab
viele so wie mich«, erzählte er ihr. »Linke, die direkt neben den konservativen
Malochern arbeiteten . « Aber eine Revolution hatte es
nie gegeben, nicht mal annähernd, 150000 Menschen
wurden arbeitslos und gingen alle, schweigend. Sonnenklar, dass es
Verantwortliche dafür gab, Menschen aus Fleisch und Blut, Männer, die sich
entschieden hatten, das gesamte Tal in Arbeitslosigkeit zu stürzen, Männer, die
in Aspen Ferienhäuser hatten und die ihre Kinder nach Yale schickten. Das
Vermögen dieser Männer wuchs, als alle Stahlwerke hier eingingen. Doch
abgesehen von einigen Pfarrern, die sich heimlich in eine der vornehmeren
Kirchen eingeschlichen und den reichen Pastor, die Geschichte war berühmt, mit
Stinktieröl bespritzt hatten, erhob kein Mensch die Stimme zum Protest. Das
Ganze war typisch amerikanisch – sich für Unglück selbst die Schuld zu geben –,
dieser Widerwille, zu erkennen, dass dein Leben von sozialen Kräftenmit
beeinflusst wird, und diese Neigung, größere Probleme eher dem
Individualverhalten zuzuschreiben. Hässlich, die Kehrseite des amerikanischen
Traums. Wäre das in Frankreich so passiert, dachte sie, hätten die das ganze
Land lahmgelegt. Und verhindert, dass die Stahlwerke geschlossen wurden. Aber
so was konnte man natürlich nicht laut sagen, schon gar nicht vor ihrem Vater.
Die Veranda war gefegt. Es hatte keinen Zweck, das weiter vor sich
herzuschieben. Lee ging wieder rein, gelangte durch die Küche in das Esszimmer,
wo immer noch ihr Vater saß.
Sie sagte: »Dad?«
»Das bin ich.« Widerstrebend sah er auf. Er wusste, was jetzt kam.
»Was hat der Chief mit dir besprochen?«
»Isaacs Freund Billy«, sagte er. »Sie haben ihn verhaftet, weil er
jemanden getötet hat.«
Er wandte sich wieder der Zeitung zu, sie merkte, dass ihm unwohl
war. Sie fragte sich, wie viel er wusste. Plötzlich schien es in dem Zimmer
wärmer zu sein.
»Ich glaub nicht, dass er es war.«
»Schon möglich, aber warum lange spekulieren. Wird sich vor Gericht
herausstellen.«
»Es ist eher so, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass er es nicht
war.«
»Vielleicht ist auch deine Perspektive auf ihn schief.«
Ein paar Sekunden blieb es still; sie merkte, wie sie rot wurde. Ihr
Vater wollte das Gespräch beenden und sie auch, aber sie zwang sich dazu,
weiterzusprechen: »Ich hab von ihm gehört, dass Isaac es war, der diesen Typen
umgebracht hat.«
»Lee«, sagte er ohne Zögern, »Billy Poe hat letztes Jahr fast einen
umgebracht, er hat dem Kerl den Kopf mit einem Baseballschläger eingedroschen,
und dass er dafür nicht hinter Gittern landete, liegt daran, dass Bud Harris,
zufällig der Polizist, der gestern hier war, eng befreundet mit der Mutter ist. Befreundet ,wenn du verstehst, was ich meine.
Damit müssen alle umgehen, jetzt wo er auch die andere Tat begangen hat.«
»Ich weiß das alles«, sagte sie. Was gar nicht stimmte – so hatte sie die Geschichte nicht gehört.
»Ich wollte dich nicht anschnauzen. Bud Harris sagte mir, er glaubt,
dass Isaac auch dort war, aber dass es besser ist, ihn da herauszuhalten. Er
meint nicht, dass Isaac da reingezogen werden muss, wenn es nicht unbedingt
notwendig ist. Was mir nur recht ist.«
»Wenn es wirklich zum Prozess kommt, kannst du sicher sein, dass
Isaac da reingezogen wird.«
»Das weiß ich. Heute Nacht hab ich kein Auge zugetan, nur überlegt,
wen ich so kenne, der hier Anwalt ist.«
»Es macht dir gar nichts aus, dass Isaac dabeiwar?«
»Ich hab Schuldgefühle deshalb, falls du das meinst.«
»Darauf wollte ich gar nicht hinaus.« Obwohl, sie wusste es nicht.
Vielleicht doch. Sie stellte sich dicht neben ihn, er griff nach oben, drückte
ihre Hand.
»Ich habe Simon schon davon erzählt. Er sagt, wir können gern das
Scheckbuch der Familie benutzen.«
»Ach, das schaffen wir alleine«, sagte er und drückte ihre Hand erneut.
»War aber klug von dir. Gut mitgedacht!«
Was gerade ablief, war absurd, diese Erkenntnis traf sie hart: Ihr
habt soeben beide zugegeben, dass ihr euch etwas verheimlicht hattet – dass der
Chief glaubt, Isaac wär Zeuge eines Mordes, und dass Poe glaubt, Isaac hätte
den Mord begangen –, und wollt beide weiterhin so tun, als wäre alles ganz
normal.
»Was können wir noch machen?«
Henry zuckte mit den Achseln. »Klingt, als hättest du dich schon
darum gekümmert. Und in meinen Augen tätest du gut daran, nicht zu glauben, was
dir Billy Poe erzählt.« Er sah kurz von der Zeitung
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