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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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überwältigen, dann
musste die Gefahr für Isaac immens gewesen sein, er hatte sicher Angst gehabt.
Und trotzdem war er reingegangen, klar. Es war das Richtige, er hatte es getan.
    Und du? Sie fühlte sich schwach und ließ sich noch tiefer in das hohe
Gras rutschen, die Sonne und der Wind würden ihr durch und durch gehen, sie
abschmirgeln bis auf ein Nichts, sie würde in die Erde einsinken. Ich sollte
mich, dachte sie, doch nicht schuldig fühlen, nein, ich sollte stolz auf mich
sein. Aber selbst dieser Gedanke sorgte dafür, dass sie sich unglaublich
isoliert vorkam, mit dem Verdacht, den sie von jeher kannte, dass sie
eigentlich nirgendwo hingehörte und die Menschen, die sie kannte, alle
überleben würde. Sie würde allein sein, so wie ihre Mutter. Ihre Mutter, die
versucht hatte, sich selbst neu zu erfinden, das hatte sie umgebracht. Lee
versuchte die Wahrscheinlichkeit noch einmal zu berechnen, dass sie frei von
Schuld war. Erst Dads Unfall und dann Mom, die starb, und jetzt noch das, da
gab es keine Logik, nur das wichtigste Beweisstück: Du bist hier die Einzige,
die noch intakt ist.
    Sie würde ihn finden müssen. Länger warten konnte sie nicht. Erst
den Anwalt engagieren, dann einen Privatdetektiv, von alleine wird sich das
nicht regeln. Sie stand auf und bürstete die Grashalme ab, ließ den Blick über
die Bäume und die Felder schweifen und die Schlucht, wo sie und Isaac gespielt
hatten, auf warmen Felsen rücklings ausgestreckt und zu dem schmalen Korridor
des Himmels über ihnen starrend, Isaac hielt immer Ausschau nach den Vögeln,
denn er liebte Vögel, Falken, liebtees, die Namen aller Dinge zu erfahren,
sie gab sich damit zufrieden, zu beobachten, die meisten glücklichen Erinnerungen
aus der Kindheit hatten nur mit ihr und Isaac zu tun; den Rest der Zeit
verbrachte sie mit Warten auf das Älterwerden.
    Anwalt und Privatdetektiv. Dafür würde sie Simon die ganze Sache
offenbaren müssen, seinen Eltern ebenfalls. Ein Plädoyer für Isaac fiel ihr
nicht schwer – er hatte bei den Einstufungstests für die Uni fast die
Höchstpunktzahl geschafft, das stellt einen Wert dar, den begreifen sie. Aber
Lee wollte das nicht sagen müssen. Sie würden sich entscheiden, Isaac zu
helfen, nur weil er ihr Bruder war. Ob das der Grund war oder nicht, sie würde
es erfahren. Gut, dachte sie, besser, wenn ich es erfahre. Du hast zahlreiche
Kreditkarten, und du wirst, ob mit ihnen oder nicht, schon irgendwas
organisieren. Fang mit Simon an, der soll den Anwalt organisieren. Der wird
sich freuen, dass er was zu tun hat.

8 . Harris
    Nach der Arbeit räumte er noch auf und duschte schnell und rief
den Hund herein. Fell tappte langsam zu ihm, widerstrebend, denn er wusste, was
das hieß. Er kam zu Harris, lehnte sich gegen sein Bein.
    »Tja, Kumpel, tut mir leid«, sagte er. »Firma ruft.«
    Er überlegte, ob er Fell noch draußen lassen sollte, aber die
Kojoten wurden immer größer, fast verdoppelt in den letzten zwanzig Jahren, und
es gab auch immer mehr von ihnen. Viele Nachbarn schossen aufs Geratewohl auf
sie, und Harris hatte die Kaliber . 22 – 250 , die vierhundert Meter weit schoss, doch er wollte auf
keinen Kojoten schießen. Weil sie edle Tiere waren, deshalb. Weil sie einen
Willen hatten und die anderen Tiere dazu zwangen, sie zur Kenntnis zu nehmen.
Ob Berglöwen, ob Wölfe, ganz egal. Ein solches Tier konnte man nur töten, wenn
man genau wusste warum.
    »Du hast die Wahl, Blödmann. Entweder du bleibst drinnen, oder du
verteidigst dich allein.«
    Aber natürlich würde er nicht ernsthaft seinem Hund diese Wahl
überlassen. Vielleicht war das widersprüchlich. Trotzdem. Sachte stupste er
Fell in die Hütte, von der Tür weg, die er zumachte.
    Und zehn Minuten später war er auf einer Landstraße, unterwegs zu
Graces Trailer und nicht so recht sicher, warum er das tat. Beim Anziehen hatte
er sein Spiegelbild betrachtet und gedacht, das nächste Mal, wenn du dich
ausziehst, ist’s bei ihr, doch jetzt, wo er zu ihr nach Hause fuhr, schwankte
er wieder. Was für ein erstaunlicher Zufall, dass sie dich anruft, gerade als
ihr Sohn erwischt wird. Harris schüttelte den Kopf. Es war inOrdnung.
Solche Dinge unterstellte er den Leuten, aber wen er mochte, dem verzieh er
schon im voraus. Grace verzieh er. Aber ihrem Sohn, der immer schon Mist gebaut
hatte … Harris hatte für ihn alles getan, was nur möglich war. Er hatte einen
milden Deal bei Glen Patacki und bei Cecil Small herausgeholt. Sie hatten

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