Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
wenn du gerade mit dem zweiten zugange bist.
Er war schwächer und steifer geworden, fast wie Totenstarre. Schlaf ich halt im
Rollstuhl, dachte er. Doch das war ernsthaft keine Möglichkeit.
    Er konnte seinen wahren Zustand nicht viel länger vor ihr verbergen.
Er musste baden. Seit der Junge weg war, hatte er’s nicht mehr getan, und ihm
war klar, dass sie das merkte. Wie sie ihn betrachtete beim Gutenachtsagen, als
küsste sie ein Baby. Das war schlimm genug. Ins Heim mit dir. Das wollte Isaac
nicht,hatte es nie in Erwägung ziehen wollen, aber seine Tochter war
pragmatisch. Ihr Herz war ein paar Grad kälter.
    Was dich ablenkt, ist der Junge. Seit sechs Tagen weg. Die Penner
müssen ihn erwischt haben. Dann dachte er: Nein, der ist zäher, als er
aussieht. Ganz zu schweigen von deinen viertausend in der Tasche, wenig Anreiz,
wieder heimzukommen. Himmel, dachte er. Er spürte, wie der Druck in seinem
Innern anstieg, schlagen, musste irgendwo draufschlagen, boxte auf die
Rollstuhllehne und auf die Matratze, presste seine Kinnbacken so fest zusammen,
wie er konnte, gleich würden die Zähne ihm zerbrechen. Dann erhaschte er sein
Bild im Spiegel, das Gesicht war ganz verzerrt und rot, ein Wutanfall.
    Beruhige dich. Und lies was. Henry rollte seinen Stuhl ans andere
Ende seines Zimmers, wo er keinen Spiegel hatte, unter seine Lampe, und griff
nach der Fernsehzeitung. Es war seine eigene Schuld, weil die Matratze viel zu
weich war und er keinen Halt fand, dieses Bett war älter als die beiden Kinder.
Hochzeitsbett. Beim Schlafen spürte er die Sprungfedern im Rücken, doch er
konnte sich nicht davon trennen, es war Marys letztes Bett gewesen, und sein
letztes würde es auch werden, manchmal kam sie nachts noch immer zu ihm.
    Und mal ehrlich, er war nahe dran. Er leierte die letzten paar Tage
aus seinem Leben raus, so war’s doch. Alte Kiefer, schwache Wurzeln, und am
Ende reißt das eigene Gewicht sie um. In ihm ging alles in den Streik, die
Nieren, Leber, Pankreas, sie rissen ihm zum Teil die Eingeweide raus, den
Blinddarm und die Gallenblase, und er durfte nichts mehr essen. Schluss mit
Alkohol und Fett. Und Salz. Lees Mittagessen gestern, all der Käse und die
Milchprodukte, prompt saß er den halben Tag nur auf dem Thron und kackte sich
die Seele aus dem Leib. Sie hatte ihn ins Kino eingeladen, aber er musste so
tun, als wär er müde. Sagte ihr den wahren Grund natürlich nicht. So hatte er
sie aus dem Haus und konnte sich in Ruhe seinen Stuhlgängen widmen.
    Doch auch wenn man so aufgefressen wurde, konnte mannoch ewig
weiterleben, Hauptsache, die Bissen waren klein genug – das fand er früher
immer wunderschön, Triumph des Geistes, dass man durchhielt, was auch kommen
mochte. Das war Shackleton und nur bergauf, so zäh war kein normaler Mensch.
Drum Kopf hoch. Das Problem war bloß, hier handelte es sich um eine Sichtweise,
mehr nicht, um eine bloße Denkweise, die nicht die Wirklichkeit veränderte. Die
Wirklichkeit hieß, er war Gammelfleisch. Ein Kopf, der oben auf dem rotten
Haufen saß, und unten kriegte er die eigene Hose nicht mehr ausgezogen. Wärst
du irgendein anderes Tier und würdest so in deinem eigenen Sabber liegen,
hätten sie dich längst schon eingeschläfert.
    Red du nur, dachte er. Großmaul. In der Schublade liegt eine 19 Millimeter, falls du’s irgendwann doch leid bist, kannst
du dich mit Mr. Browning unterhalten, der hat immer einen guten Rat, wenn du
bereit bist zuzuhören. Doch er hat seit dreizehn Jahren nichts gesagt. Wogegen
du das Maul nicht weit genug aufreißen kannst.
    Er legte seine Fernsehzeitschrift weg, es hatte keinen Zweck. Er
rollte an den Schreibtisch, er hatte das Ganze ausgelöst, die kleinen
Unaufmerksamkeiten brachten dich zu Fall. Er war ein bisschen schluderig
geworden, und so lag das Geld an einer Stelle, wo der Junge es leicht finden
konnte. Hätte er’s doch weggeschlossen oder anderswo versteckt. Jetzt lagen
überall die Rechnungen herum, im Krankenhaus stand wieder ein Termin an, nur,
einen Behandlungsplan wollten die nicht aufstellen, dieses Pack betrügerischer
Oberärsche, die bloß auf die 25 Piepen pro Besuch
schielten. Das war Provinzliga, du kriegst halt keinen guten Doc an so ein
kleines Krankenhaus, die waren praktisch Tierärzte. Als sie bei ihm den Knoten
in der Prostata gefunden hatten, sah er sie schon händereibend vor sich, schön
viel Untersuchungen und Operationen. Deshalb war er noch zu einem Spezialisten
in der Stadt gegangen, einem

Weitere Kostenlose Bücher