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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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benutzten. »Übrigens«, hast du dich
eingeschaltet, »das ist klassischer Lamarck. Ich glaube nicht, dass das
heutzutage noch wer vertritt.« Er hat dir eine Drei gegeben, weil er
deinetwegen schön dumm dastand. War die einzige Drei, die du je gekriegt hast.
Colonel Boyd, natürlich, war verknallt in deine Schwester. Und warum? Sie sagt
den Leuten, was sie hören wollen, darum. War ihr doch egal, ob ihre
Klassenkameraden etwas Falsches lernten.
    Er sah wieder aus dem Fenster. Dafür hatte er Lee oft bewundert, der
Umgang mit Menschen fiel ihr leicht, und er versuchte, sich was bei ihr
abzugucken. Nur begreifst du jetzt, um welchen Preis – auch Lügen fällt ihr
leicht, anders als dir. Da ist sie wie der Alte. Nein, dachte er, der ist
anders. Er versteht nicht oder interessiert sich nur für sich. Jetzt frag dich
mal, ob du in seiner Lage bessere Laune hättest – mit gebrochenem Rückgrat am
ersten Lendenwirbel und progressiver Neuropathie. Oder Stephen Hawking – lässt
dein Lieblingskrüppelgenie seine Frau sitzen. Sie wechselt sechsundzwanzig
Jahre seine Bettpfanne und dann – Schatz, tut mir leid, es wird Zeit für ein
neueres Modell. Ja, Hawking und der Alte würden sich bestens verstehen.
    Er sah auf die Uhr und überlegte, wann Poe kommen sollte.Hatten
wir die Zeit fest ausgemacht? Er wusste es nicht mehr. Untypisch. Achte drauf.
    Er hörte einen Wagen in die Einfahrt biegen, sprang zum Fenster und
erblickte eine weiße Limousine – Polizei? Nein. Ein Mercedes. Das war Lee. Sie
musste mitten in der Nacht in Connecticut losgefahren sein, wenn sie jetzt eintraf.
Er beobachtete, wie sie vorm Haus einparkte. Die weiß, dass du das Geld geklaut
hast, darum. Gott. Er fühlte sich noch elender. Mir doch egal, tönte er laut.
Was sie getan hat, war viel schlimmer. Wirklich? Schwer zu sagen, was genau sie
eigentlich getan hatte. Dich sitzenlassen, dachte er. Hatte versprochen, zu
kommen und dich abzuholen, von wegen. Und das Auto, das sie fährt, ist mehr
wert als das ganze Haus.
    Er hörte, wie sie unten eintrat und den Vater begrüßte, kurze Zeit
später kam sie die Treppe hoch. Leise schlüpfte er ins Bett und tat, als ob er
schliefe.
    Sie verharrte vor der Tür und lauschte lange, bis sie sie ganz leise
öffnete, nur einen Spalt. Er spürte, wie die Luft hereinkam. Sie stand da,
bestimmt betrachtete sie ihn gerade, doch er öffnete die Augen nicht. Er
merkte, gleich würde er husten müssen, hielt den Atem aber gleichmäßig. Er
konnte sich ihre Gesichtszüge gut vorstellen, der Mutter ähnlich, mit derselben
dunklen Haut, dem kurzen Haar, den hohen Wangenknochen. Sie war eine äußerst
hübsche Frau.
    »Isaac?«, flüsterte sie, doch er antwortete nicht.
    Sie blieb noch eine oder zwei Minuten stehen, schließlich machte sie
die Tür zu und ging wieder runter.
    War das richtig?, dachte er. Ich weiß es nicht. Wie oft darf jemand
sein Versprechen brechen, bis du es ihm irgendwann nicht mehr verzeihen kannst?
Das hatte früher anders ausgesehen, meistens jedenfalls. Als er und seine
Schwester die Gedanken des anderen fertig denken konnten, als sie, welche
Uhrzeit es auch sein mochte, ganz genau wussten, was der andere gerade tat, ob
in der Schule oder einem anderen Teil des ausgedehntenBacksteinhauses. Wenn
er schlechte Laune hatte, ging er in das Zimmer seiner Schwester, setzte sich
ans Fußende des Bettes, und sie las nur, machte weiter Hausaufgaben. Isaac ging
stets zu ihr, erst dann zu seiner Mutter. Die drei waren eine Familie in der
Familie, Isaac und Lee und ihre Mutter. Doch dann hatte sich die Mutter
umgebracht. Und dann ging Lee nach Yale. Bei seinem einzigen Besuch führte sie
ihn über den ganzen Campus, all die hohen Steingebäude voller Efeu, und er
wusste, hier gehörte sie jetzt hin, und eines Tages würde er ihr folgen, doch
jetzt war er zwanzig und saß weiter in Buell. Und nun das.
    Nichts war von Dauer. Auch der Schwede wird zu Erde werden, Blut
verändert sich von klebrig-dick zu staubig, Tiere fressen dich zurück ins
Erdreich. Schöner schwarzer Dreck bedeutet, irgendwas ist hier gestorben.
Alles, was man finden konnte – Blut und Haare, Fingerabdrücke und Stiefelspuren
–, damit würden sie doch nie im Leben durchkommen, und ein bestimmtes Bild
hatte sich festgesetzt in seinem Kopf, der Schwede und sein glänzendes Gesicht
im Widerschein des blutfarbenen Lichts. Er hatte immer weiter auf die Stelle
zwischen seinen Augen starren müssen, auch nachdem die Kugel seine Hand
verlassen

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