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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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hatte. Hab ihn voll damit getroffen. Mit der Kraft des Geistes hab
ich sie genau dorthin geschickt. Er wollte Ottos Hände vor sich sehen,
inklusive Waffe, es gelang ihm nicht. Die Hände waren leer gewesen. Unbewaffnet,
schlimmer kann kein Wort sein. Warum hast du dieses Ding nach ihm geworfen?
Weil er so ’nen Blick draufhatte. Weil ich an den Mexikaner ja nicht rankam –
hätte vielleicht Poe getroffen. Dieser Mexikaner hatte Poe ein Messer an den
Hals gehalten, aber den hast du nicht umgebracht. Der Tote war der, der dastand
und nichts tat.
    Das ist, dachte er, die Grundlage von allem. Einer von den Deinen
kommt vor einem Fremden. Toter Schwede gegen Poe, lebendig. Fünfzehn tote
Schweden oder hundert. Solang es der Feind ist. Frag die Generäle. Frag die
Priester – in der Bibel sterben doch Millionen, kein Problem, wenn Gott sagt,
ab damit.Selbst Säuglinge – komm, knall sie auf die Felsen und sag, Jesus
hat mir das befohlen. Gottes Wort und Menschenhand. Die Tat vollbracht, jetzt
wasche deine Hände.
    ***
    Am frühen Nachmittag sah er am Rand der Wiese Poe auftauchen,
knapp zweihundert Meter weg, er zog sich rasch an, auch die Schuhe und die
Jacke, und stieg aus dem Fenster, an den Fingerspitzen baumelnd, ließ er sich
zu Boden fallen. Seine Schwester war gekommen, um nach ihm zu sehen, doch sie
stand vor abgeschlossener Tür.
    Er sah zum Haus zurück, es war ein großes Haus im neokolonialen
Stil, ursprünglich gebaut für einen der Geschäftsführer des Stahlwerks, und er
sah den Alten auf der hinteren Veranda sitzen, breiter Rücken, dünne Arme,
weißes Haar, im Rollstuhl über die geschwungenen Hügel blickend und den Wald,
der immer wieder unterbrochen war von Weiden und vom tiefen Braun der
frischgepflügten Felder, und die sich dahinschlängelnden Baumlinien markierten
den Verlauf von fernen Flüssen. Friedlich, dieser Anblick, und er war nicht
sicher, ob der Alte wach war oder schlief. Als ließe ein Plantagenbesitzer den
Blick über die Ländereien schweifen – wie viel Überstunden hatte er gemacht, um
dieses Haus zu kaufen. Und wie stolz er darauf war, und wie sah’s heute aus?
Kein Wunder, dass du immer Schuldgefühle hast.
    Er ging steifbeinig durch hohes Gras zu der Baumgruppe, die am Fuß
des Grundstücks stand, dort wo der Bach hervorkam, und er kannte alle – Esche,
Lärche, Silberahorn, Weißeiche und Königsnuss. Da stand der Judasbaum, den er
mit seinem Vater gepflanzt hatte, voll in Blüte, pink vorm Grün der anderen
Bäume. Judasbaum. Wie passend. Poe saß da und wartete auf ihn, im Schatten.
    »Und, bei dir wer Komisches geklingelt?«, fragte er.
    »Nein«, sagte Isaac.
    »Und dieser Wagen da?«
    »Von Lee. Vielleicht vom neuen Gatten.«
    »Oh.« Ganz kurz schien Poe verblüfft. Dann: »E 320 – Scheiße.« Und er sah zum Haus.
    Sie liefen durch den Wald zur Straße, wirbelten das mürbe Laub vom
letzten Herbst empor, mit seinem süßlichen Gammelgeruch.
    »Wie dumm«, Poe schaute Isaac an. »Mir fällt auch kein anderer Weg
ein, aber das bedeutet nicht, dass es nicht dumm ist.«
    Isaac sagte kein Wort.
    »Gott«, sagte Poe, »na vielen Dank.«
    Sie kreuzten die Landstraße, bahnten sich den Weg durch Erlendickicht
bis zum Fluss. Von einer leichten Kühle abgesehen, gab es keine Anzeichen
dafür, dass es die letzte Nacht geschneit hatte, und sie marschierten über
Schotterböschungen und dunkle Felsen voller Moos, der Himmel über ihnen blau
und eng, die Schlucht war grün verwuchert, Geißblatt, Traubenkirsche, und ein
alter umgestürzter Silberahorn lag da, darunter war der Boden ausgewaschen.
    Sie passierten einen alten Sattelschlepper, ohne Türen, halb im Sand
versunken. Blutspuren, fiel Isaac jetzt ein, das könnte sein, er hatte nicht
geduscht, sich nicht gewaschen, gar nichts. So weit spritzt es nicht, sechs
oder sieben Meter. Trotzdem, dachte er. Wie äußerst blöd.
    Sie gingen um die Stadt herum, die lange Strecke durch den Wald,
weil sie da keiner sehen würde. Es war später Nachmittag, man konnte durch die
Bäume gerade mal das Mauerwerk der Standard -Anlage
erkennen.
    »Komm, wir gehen einfach rein und bringen’s hinter uns.« Poe griff nach
seinen Zigaretten, doch er brauchte lange, bis er eine aus der Schachtel
rausgefummelt hatte, und obwohl es gar nicht heiß war, zeichneten sich durch
sein Hemd große Schweißflecken ab.
    »Wir müssen warten, bis es fast dunkel ist. Wird ’ne halbe Stunde
dauern, denk ich, bis wir ihn am Wasser haben.«
    »Das ist

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