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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Wahnsinn«, sagte Poe.
    »Nein, gestern dort zu bleiben war der Wahnsinn.«
    »Wie du weißt, sind wir hier einen knappen Kilometer von der nächsten
Straße weg. Bis da mal wieder einer reinstolpert, das dauert Monate, womöglich
Jahre.«
    »Deine Jacke liegt dann immer noch da drin.«
    »Ich hätt sie mir wohl auf dem Weg nach draußen schnappen sollen.
Lag wahrscheinlich an dem Typen und dem Messer an der Kehle, dass ich abgelenkt
war.«
    »Weiß ich.«
    »Ich hab Schiss, da noch mal reinzugehen.«
    »Oh, der große Jäger. Schießt dem Hirsch die Eingeweide raus, doch
wenn’s um einen Kerl geht, der versucht hat, ihn tatsächlich umzubringen –«
    »Das ist total anders, verdammt«, sagte Poe.
    »Darüber hättest du dir gestern mal Gedanken machen sollen.«
    »Dass ich auch nur in der Nähe von diesem Scheißloch war, liegt
allein an dir«, sagte Poe zu ihm.
    Isaac wandte sich ab und stapfte zu den Uferbäumen. Gleich am Wasser
war ein Felsen, und er setzte sich. Ein mittelgroßer Fluss, nur ein paar
hundert Meter breit und an den meisten Stellen nur drei Meter tief, mehr nicht.
Drei Meter Tiefe. Sind so gut wie die fünf Faden für Matrosen. Gut genug für
deine Mutter und den Schweden auch. Vom Herz entleert, vom Fleisch befreit. Du
solltest dich mal hören, dachte er, am besten stellst du dich gleich. Und du
dachtest, du wärst der, der Leute rettet.
    Etwas später tauchte Poe auf und entdeckte ihn, sie starrten
schweigend auf den Fluss, hörten den Wind im Laubwerk zischeln, einen
Reiherruf, ein fernes Motorboot.
    »Du weißt doch, dass er nicht so einfach weg sein wird. Irgendein
dämlicher Jetskifahrer hat ihn garantiert bis morgen Mittagaufgespießt. Die
Scheiße löst sich nicht in Luft auf, bloß weil du sie in den Fluss wirfst.«
    »Dafür braucht’s nicht viel, ’ne Leiche zu versenken«, sagte Isaac.
    »Mann, Hirni, hörst du, was wir reden?«
    »Es ist schon geschehen«, sagte Isaac. »Wenn wir so tun, als könnten
wir jetzt abhauen, dann machen wir es nur noch schlimmer.«
    Poe schüttelte den Kopf und setzte sich ein gutes Stück entfernt
hin.
    Langsam sank über den Hügeln auf der anderen Flussseite die Sonne,
eine angenehme, stille Szene, dazusitzen und den Blick aufs Wasser zu genießen,
doch so fühlte es sich gar nicht an. Du bist hier nur Besucher, dachte er.
Siehst dir die Sonne an, meinst, sie gehört dir, dabei geht sie hinter diesen
Hügeln schon seit fünfzehntausend Jahren unter – seit der letzten Eiszeit.
Glazial, verbesserte er sich, nicht Eiszeit. Als die Hügel hier entstanden.
Diese Gegend war das Ende der Wisconsinschen Vergletscherung. Und jetzt bist du
hier. Als vorübergehender Besucher auf der Sonnenerde. Denkst, dass deine
Mutter ewig da sein wird, dann ist sie weg. Fünf Jahre später hast du’s immer
noch nicht ganz begriffen. War von heut auf morgen verschwunden. Wie du
demnächst. Was du hier siehst, das wird dich überdauern, alles – Felsen Himmel
Sonne. Siehst die Sonne untergehen, meinst, sie gehört dir, und sie geht schon
seit tausend Jahren ohne dich auf. Nein, eher seit ein paar Milliarden, dachte
er. Du kriegst nicht mal die richtige Zahl im Kopf zusammen. Sogar dass du existierst,
weiß keiner außer dir. Geboren und gestorben zwischen Erdherzschlägen. Deshalb
glauben Leute auch an Gott – da bist du nicht allein. So wie ich früher mal
geglaubt habe. Den Glauben habe ich von meiner Mutter. Und durch sie wieder
verloren. Schluss jetzt. Du hast Glück, überhaupt da zu sein. Jetzt sei kein
schwacher Denker.
    Das sind einfach Tatsachen, sonst nichts. Beeinflussen kannstdu
nur die Entscheidung, was du daraus machst. Sie war zwei Wochen unten, mit ein
paar Pfund Steinen in den Taschen. Das ist’s, was du daraus lernen konntest.
Diesmal ist es kein Stück anders. An der Schleuse werden sie ihn finden und mit
einer Stange rausholen. Falls er nicht dran vorbeischlüpft – Old Man River,
eine lange Treibgutreise. Und die Welse an der Arbeit. Opfer so klug wie zuvor.
Ein Dach aus Wasser, Knochen drunter. Auferstehung dann am Jüngsten Tag. Das
gibt’s nicht, dachte er. Ist gar nicht möglich, selbst wenn es den gäbe. Wenn du
erst mal deine Flüssigkeit verloren hast, bestehst du vom Gewicht her
größtenteils aus Kohlenstoff. Dann werden deine weitverstreuten Moleküle neu
genutzt, sie werden zu Atomen und Partikeln, Quarks, Leptonen. Du hast dir das
vom Planeten ausgeliehen, so wie der Planet vom Kosmos. Eine kurzfristige
Leihgabe. Und dass du auf die

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