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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Welt kommst, stirbst und deine Knochen sich
auflösen, ist ein Wimpernschlag deines Planeten.
    Sie verließen die Felsen erst, als die Sonne schon versunken war.
Das Licht ringsum war lila wie ein Bluterguss. Sie hörten Fledermäuse klicken,
sahen auf und merkten, dass der Himmel voll von ihnen war. Sie waren zu früh
dran, um ein paar Wochen.
    »Globale Erwärmung«, sagte Isaac.
    »Du weißt, dass es mir leid tut, oder?«, sagte Poe.
    »Ach, mach dir keinen Kopf.« Er setzte sich in Gang, durchs Gras,
und Poe kam widerstrebend hinterher. Sie liefen aus der Dunkelheit der
Flussbäume zur Lichtung an den Bahngleisen und dann zurück unter die Bäume. Auf
der Wiese blieben sie in Deckung hinter alten Güterwaggons und dem
Wildrosengestrüpp; sie waren gut versteckt, doch Isaac bemerkte, wie ihm die
Knie weich wurden. Jetzt einen vor den anderen setzen. Schalt dein Hirn mal
aus. Er wird wohl noch nicht riechen. Aber schau dir sein Gesicht nicht an. Das
heißt, das musst du ja – du wirst ihn kaum bewegen können, ohne das zu tun.
    Er warf einen prüfenden Blick auf Poe, sein nervöses Grinsen,blasse
Haut, verschwitzte Haare, Hände in die Taschen gerammt, wollte sich wohl
kleiner machen. An dem Rand des Dickichts blieben sie stehen, um das offene
Gelände vor sich abzuchecken, in der Luft hing ein Geruch wie Katzenpisse. Als
dieser Geruch nicht wegging, merkte Isaac, dass er das war. Geruch der eigenen
Angst. Adrenalin. Na, hoffentlich merkt Poe es nicht.
    Bei der Maschinenhalle sah jetzt alles anders aus. Das Gras war
platt und festgetreten und der Boden tief gefurcht von Reifenspuren. An der
Hügelseite hoch verlief die Schneise für die Feuerwehr, ganz überwuchert, die
war ihnen gestern gar nicht aufgefallen, und inzwischen war sie von den
schweren Fahrzeugen zu Matsch zerwühlt worden. Und auf der Kuppe stand der
schwarz-weiße Ford von Chief Harris. Er saß drinnen und beobachtete sie.

4 . Grace
    Südlich von Buell knickte die Landstraße vom Fluss ab, schnitt
quer durch ein steiles, sonnenloses Tal, es war eine enge, schnelle Straße,
dichter Wald auf beiden Seiten. Sie lief durch leere Ortschaften, vorbei an
verlassenen Tankstellen, einer erschöpften Kohlenmine mit einem gewaltigen
Gelände voller Abraumhalden, die sich endlos hinzogen wie Sanddünen, so grau
und trocken, nicht mal Unkraut wollte darauf wachsen. Graces alter Plymouth
eierte und klapperte durch alle Schlaglöcher, sie dachte an Bud Harris, aber ob
ein Anruf bei ihm Billy nützen oder schaden würde, wusste sie nicht. Sie fragte
sich, ob Billy wohl jemanden getötet hatte.
    Schon seit ein paar Jahren litt sie schlimm an der Arthritis ihrer
Großmutter, und praktisch jeder Wetterumschwung ließ die Hände schmerzen; sie
schaffte nur fünf, sechs Stunden Näharbeit am Tag, bevor sie sich zu Klauen
schlossen. Einmal hatte sich so ein Gewerkschaftsfunktionär im Betrieb
umgesehen und nach Schichtende draußen gewartet. Von ihm kam die These, dass
ihr Zustand auf den Dauerstress zurückzuführen sei – nicht auf Arthritis. Das
kommt häufig vor, sagte er. Anders als Arthritis schon in Ihrem Alter. Leider
hatte dieser Funktionär ihren Betrieb dann aufgegeben, weil nicht eine von den
anderen Frauen mit ihm reden wollte – alle wussten, dass sie ihren Job sofort
verloren hätten. Und es stimmte schon, so übel war es nicht bei Steiner. Ihr
war klar, bei einer größeren Firma hätte sie mit ihren merkwürdigen
Arbeitszeiten keine Chance gehabt, doch Steiner, als Inhaber des Betriebes,
ließ sie machen, wie sie wollte. »Gleitende Arbeitszeit«, nannte er das.
Hauptsache, sie half ihm beim Verdienen. Er bezahlte einen Brownsville-Lohn,verkaufte seine Hochzeitskleider dann aber zu Stadtpreisen in Philadelphia
und expandierte gerade nach New York. Grace fragte sich, ob sie sich dieses
Leben weiter leisten konnte – alles wurde immer teurer, Teilzeitjobs gab’s nur
bei Fastfood, Walmart oder Lowe’s Megamarkt – und
überall musste man mit den Händen arbeiten und kriegte nur den Mindestlohn. Mal
ganz zu schweigen davon, dass es dauerte, bis man so einen Job bekam. Sobald
man Arbeit hatte, blieb man auch dabei, selbst wenn es Mist war. Letztes Jahr,
da hatte sie mal einen zweiten Job bei Wendy’s angenommen, nur um’s zu
versuchen, aber mehr als eine Woche hatte sie nicht durchgehalten.
    Sie würde die Dinge nehmen, wie sie kamen – ihre Mutter hatte drei
Jobs gleichzeitig gehabt und war mit sechsundfünfzig schon gestorben,
Aneurysma, aber

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