Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
grüßend, sah sich dann die Leiche an. »Ein großes Exemplar, was?«
    Leute kamen und gingen den ganzen Tag, doch keinem fiel die Jacke
auf. Jetzt, mit Steve Ho im Wagen, war er unruhig, nicht weil er sie versteckt
hatte, sondern weil diese Jacke Billy Poe gehörte. Bud rieb sich die Schläfen;
dass er schon vor Wochen Zoloft abgesetzt hatte, war jetzt nicht gerade
hilfreich. Er versuchte,Ordnung im Gehirn zu schaffen. Dass er diese Jacke
versteckt hatte, störte ihn an sich nicht. Man verhaftete nicht jedes Kind, das
man beim Einbrechen erwischte. Oder jeden Bürger, der vor dem Nachhausefahren
in der Happy Hour ein paar Budweiser zu viel getrunken hatte. Gute Menschen
kriegten einen Freifahrschein. Und Jugendliche kriegten zwei, obwohl die zweite
Freifahrt schon in Handschellen im Streifenwagen stattfinden konnte. Jeder
Mensch spielte in der Gemeinschaft seine Rolle, einer stillschweigenden
Abmachung folgend. Die letztlich drauf hinauslief, nur das Richtige zu tun.
Zuweilen hieß das, einen anzuhalten, weil sein Nummernschild verschmutzt war,
manchmal ließ man einen laufen, der sich gerade kriminell betätigte. Das galt
für jeden, der drei Bier trank und danach den Schlüssel in das Zündschloss
steckte. Durfte man nicht sagen, war aber die Wahrheit – es kam vorrangig nicht
aufs Gesetz an, sondern darauf, nur das Richtige zu tun. Der Trick war,
rauszufinden, was genau das hieß.
    Du solltest dich mal hören, dachte er. Du lenkst nur von der Frage
ab. Die lautet, ob du Billy Poe verteidigen darfst. Steig jetzt aus dem Wagen,
geh da runter, finde diese Jacke. Hättst ihn schon verhaften sollen. Das war
jedenfalls ein Ansatz – der von Häuptling Ruhige Hand. Doch Häuptling Ruhige
Hand hatte ihn auch dazu gebracht, sich eine Hütte auf dem Berg zu kaufen, in
der keine Frau, die sie noch alle hatte, jemals leben wollte. Ruhige Hand, der
Feigling. Bud beschloss, er würde einfach sitzen bleiben. Würde aufpassen und
sehen, was geschah. Er würde sehen, welcher Teil von ihm am Ende recht
behielte.
    ***
    Gegen Abend sahen sie Bewegung auf der Wiese, ganz am hinteren
Ende bei den Bahngleisen.
    »Da haben wir zwei Leute«, sagte Ho, »die nicht gesehen werden
wollen.«
    Buds Gefühl verschlimmerte sich noch. Er hob sein Fernglas. Auch
wenn er bei keinem dieser beiden auf der Wiese das Gesicht erkennen konnte, von
der Größe und dem Gang her, der merkwürdig wippte, ließ es sich erraten. Kommt
zurück, um seine Jacke abzuholen. Die Beklemmung in der Brust nahm zu. Und als
die beiden näher kamen, sah er deutlich, dass es Billy Poe und einer seiner
Freunde waren, dieser kleine Bursche, dessen Schwester die Stipendien bekommen
hatte. Ihm fiel Grace ein, und ihm wurde schlecht.
    »Ist alles klar, Bud?«, fragte Ho.
    Er nickte.
    Ho sah durch sein eigenes Fernglas, ein teures Zeiss-Modell.
    »Ist das, wer ich denke?«
    »Glaube schon.«
    »Soll ich hingehen?«
    »Warte noch.«
    Ein paar Sekunden blieb es still, dann sagte Ho: »Pass lieber auf,
dass du dir nicht die Finger verbrennst, Chief. Die ganze Stadt weiß, dass du
letztes Mal ein gutes Wort für Billy eingelegt hast. Du hast selbst gesagt –«
    »Komm, tu mir den Gefallen.«
    »Weißt doch, Chief, ich mein ja bloß. Die alten Tage sind vorbei.«
    Chief Harris schaltete das Blaulicht für ein paar Sekunden ein,
damit die beiden auf der Wiese wussten, dass sie kommen sollten. Sie erstarrten.
    »Gleich rennen sie weg.«
    »Die Schwester von dem Kleinen ist in Harvard. Der rennt nirgendwohin.«
    Wie erwartet, setzten sich die beiden trübe in Bewegung, auf den
Ford Explorer zu.
    »Guck mal durch das Fernglas, Chief. Da siehst du noch den kleinsten
Pickel, den die im Gesicht haben.«
    »Gleich«, sagte Harris.
    Doch das Bild war klar genug. Poe hatte sich mit ein paar
Freunden dort getroffen, um zu trinken, vielleicht kam noch Meth dazu, und dann
war’s wohl gekippt. Mit anderen Worten, Billy hatte einen davon totgeschlagen,
war in Panik abgehauen und kam jetzt zurück, die Spuren zu beseitigen. Das
Traurigste war, dass er diesen anderen Jungen da mit reingezogen hatte. Harris
überlegte, ob sich der nicht irgendwie heraushalten ließ. Solche Typen hatten
eine Perspektive.
    Billy hatte er längst abgeschrieben. Schon seit Jahren wusste er, wo
dieser Junge enden würde. Harris hatte sich bemüht, den eigenen Namen in die
Waagschale geworfen und die ganze Zeit gewusst, was kommen würde. Ab einem
bestimmten Alter ging ein jeder seinen eigenen Weg. Man konnte noch

Weitere Kostenlose Bücher