Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
ihr bloßes
Fingerschnippen hin käme er nicht mehr angerannt. Sie konnte warten und sich
sammeln und mal selber etwas Würde zeigen. Vor dem Spiegel strich sie sich das
Haar zurück zu einem straffen Pferdeschwanz. So würde sie es tragen, straff und
vom Gesicht weg. Einen Haarschnitt brauchte sie, kein Mensch trug heut noch
lange Haare, es war strähnig. Ihre Wangenknochen hatte sie noch, einen guten
Knochenbau hatte sie immer schon gehabt. Wie man sich hielt, das war die halbe
Miete, sie war deprimiert gewesen, keine Frage. Klitzekleine Schritte, darum
ging es jetzt. Mit einem Hauch Mascara würde alles besser werden, schon vor
Monaten war sie ihr ausgegangen, morgen würde sie sich neues holen. Sie kochte
ein kleines Abendessen, schaute sich von der Veranda aus den Sonnenuntergang
an, es gab keinen Mond, die Sterne leuchteten sehr hell. Sie ging hinein und
legte eine alte, rauschige Yoga-Kassette ein, die ihr die Leiterin des
Frauenhauses mal geschenkt hatte, sie mochte diese Dehnungsübungen, es war, als
käme das ganze Gift aus ihr raus. Danach schlief sie problemlos ein.

5 . Harris
    Harris und Steve Ho saßen seit ungefähr drei Stunden in dem
schwarz-weißen Ford Explorer. Es war Harris’ Idee gewesen – nur so ein Gefühl.
Die State Police, der Rechtsmediziner des Countys und der Staatsanwalt und alle
anderen waren längst weg. Vom Hügelkamm aus überblickten sie die Wiese, die
Ruinen der halb eingestürzten Standard-Steel -Fabrik
für Bahnwaggons, von Kletterpflanzen überwuchert, und die kleine Halle, wo die
Leiche aufgefunden worden war. Schrottreife Güterwaggons standen auf der Wiese,
eine angenehme, friedliche Stimmung herrschte an diesem Ort. Wie die Natur sich
Menschenwerk zurückholte. Als Harris jung war, hatte er so etwas in Vietnam
gesehen, in verlassenen Dschungeltempeln.
    Harris musterte Steve Ho. Der hatte dienstfrei und bekam kein Geld
dafür, dass er jetzt da war, was nicht selten vorkam. Ho sah ausgeglichen aus,
jung und ausgeglichen, klein und stämmig, voller schwarzer Schopf, die Hände
auf der großen Wampe abgelegt. Er hatte seinen M 4 -Karabiner
überm Schoß – wie viele andere junge Polizisten hatte Ho eine Schwäche für so
etwas, Körperpanzer und so weiter. Mit der Polizeischule war er erst seit drei
Jahren fertig, aber Bud war überglücklich, ihn im Team zu haben. Ho war als
Kollege angenehm, und er ließ sein Funkgerät stets an, selbst wenn er außer
Dienst war.
    Im Vergleich kam Harris sich nur alt und kahl vor. Und er rief sich
ins Gedächtnis, dass das gar nicht stimmte – jedenfalls nicht so alt.
Vierundfünfzig erst. Doch das Gefühl hing gar nicht mit dem Altwerden zusammen,
vielmehr damit, dass es grad so aussah, als ob dies ein schlechter Tag würde.
Er hätte gern mit seinem Hund und einem Scotch daheim vor dem Kamin gesessenund vielleicht den Sonnenuntergang von seiner hinteren Veranda aus
betrachtet. Er wohnte allein in einer kleinen Hütte, die er gern »Das Lager«
nannte, hoch gelegen und mit Blick über zwei Täler. So zu wohnen wär der Traum
von jedem kleinen Jungen, doch die Wirklichkeit, mit anderen Worten: Frau und
Kinder, würde sich dagegenstellen. Harris hatte sich vor ein paar Jahren dazu
überredet, die Hütte zu kaufen. Gut gebaut zwar, aber abgelegen, und zum Heizen
hing sie von zwei Holzöfen ab, hatte kaum Empfang für Fernsehen und Radio, und
man kam nur mit Allradantrieb hin. Kein Ort, wo eine Frau je würde leben
wollen. Noch eine Entschuldigung. Noch eine Art, im Lot zu bleiben, Feigheit,
die so tat, als wär sie Unabhängigkeit. Und Fell, sein Malamute, fühlte sich
wohl hier.
    Harris war der Erste, der am Tatort eintraf – auf den anonymen Anruf
hin –, und spürte die Erleichterung, als er die Leiche sah. Das war ein
Obdachloser, eindeutig. Kein Anruf, der ihm weh tat, kein entsetzlicher Besuch
bei Menschen, die er mochte. Diese Dinge wurden schlimmer mit den Jahren und
nicht einfacher.
    Er stand neben der Leiche und betrachtete das Ganze, als er eine
Jacke sah, die er gut kannte. Und ein zweites Fahrzeug hörte – das der State
Police –, das auf der alten Zufahrtsstraße rumpelnd näher kam. Schnell griff er
nach der Jacke und versenkte sie hinter der Werkbank. Kurz darauf kam auch der
Junge von der State Police rein, Bud versuchte, sich an seinen Namen zu
erinnern. Clancy. Nein, Delancey. Nein, er kam nicht drauf, dabei war ihm der
Mann bekannt. Aber Delancey hatte nicht bemerkt, was Harris grad getan hatte.
Er nickte

Weitere Kostenlose Bücher