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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Recht, dachte
sie heute. Es war wirklich besser, vorher keinerlei Besichtigung zu machen und
nur nach dem Ruf zu gehen. Denn mit siebzehn würde man die Uni nach der
stattlichen Architektur wählen, weil ein Dozent gelächelt hatte oder weil die
beste Freundin auch dorthin ging – man fällte Entscheidungen nach dem Gefühl,
und das war, grad in diesem Alter, zwangsläufig willkürlich und schlecht informiert
und gründete zum größten Teil auf Unsicherheit.
    Trotzdem war ihr Isaacs Entscheidung, in Buell zu bleiben, schleierhaft.
Er respektierte ihren Vater nicht; seine Verachtung für ihn spiegelte exakt
Henrys Verachtung für ihn wider. Dabei schien es stillschweigend einen Kontrakt
zu geben zwischen ihnen, den sie nicht begriff und den anscheinend Isaac nicht
brechen wollte. Henry konnte, trotz der nachlassenden Kräfte, für sich selbst
einkaufen, in dem umgerüsteten Auto, er konnte kochen, putzen und sich waschen.
Sicher wäre es für ihn natürlich nicht gewesen, ganz allein zu leben – falls es
brannte oder so. Es gab im Mon-Tal eine alternde Bevölkerung, und eine
kostengünstige Pflegekraft ließe sich leicht auftreiben – wenn Isaac voneiner guten Uni angenommen worden wäre, hätte Henry ihn, so glaubte sie, aus
Stolz auch gehen lassen. Nur dass Isaac nichts unternommen hatte. Vielleicht wollte
er den Weg nach draußen in die Welt sich nicht erkämpfen müssen, sondern
freigelassen werden. Oder fortgehen mit dem Respekt des Vaters, den er glaubte,
durch die jahrelange Pflege zu verdienen. Und er ahnte nicht, dass der Effekt
eher umgekehrt war – weil ein Mann wie Henry English kaum jemanden respektieren
konnte, der sein eigenes Gefühl der Hilflosigkeit noch verstärkte. Das war
Isaac bewusst geworden, und verzweifelt hatte er das Geld gestohlen, den
Schlechtwetter-Fonds, wie Henry dazu sagte, sein verstecktes Bargeld, Mittel
gegen seine Angst, die Bank könnte zusammenbrechen oder gleich das ganze Land.
Und jetzt …
    Sie ließ sich nieder auf dem Bürgersteig, strich ihren Rock glatt
und betrachtete das Tal: Sogar auf einem asphaltierten Parkplatz standen
ringsum lauter Bäume, denen schier der Frühling aus den Knospen platzte, und
das war ein wohltuender Anblick. Es gab eigentlich nur wenige Stellen im Tal,
die keinen schönen Anblick boten, auch zur Zeit der Stahlwalzwerke schon.
Landschaftlich war die Gegend abwechslungsreich und sehr grün, auf
terrassierten Hügeln standen rauf und runter kleine Häuser, und die
Industriegebäude sammelten sich auf dem schmalen Flachland längs dem Flussufer,
es ähnelte den Schulbuchbildern mittelalterlicher Städte – hier lebten die
Menschen, und hier arbeiteten sie . Ihr ganzes Leben
in der Landschaft sichtbar.
    Sie stand wieder auf. Unglaublich, wie sie sich die Dinge schönredete.
Isaacs Entscheidung hierzubleiben brauchte gar nicht so viel Analyse. Sein
Gefühl für falsch und richtig war viel schärfer ausgeprägt als ihres. Oder das
von anderen Menschen, die sie kannte. Er war dageblieben, weil er es für falsch
hielt, ihren Vater ganz allein zu lassen, und es hatte fünf Jahre gebraucht,
ihn davon abzubringen. Ja, fünf Jahre – wenn man das so sagte, klang es gar
nicht lange. Aber Jahre wurden abgelebt inTagen und in Stunden, und
zuweilen waren selbst ein paar Minuten Henry-Zeit schon zum Verzweifeln,
jedenfalls für Isaac. Lee selbst hatte sehr wenig Schuldgefühle wegen ihres
Weggehens empfunden, erst muss man sich selber retten, dann die Welt. Und Isaac
war damals fünfzehn. Aber wenn man leben will, und nicht begraben unter
Schuldgefühlen … Bitte, dachte sie. Ist das so schwer, ein Gleichgewicht?
    Sie musste Simon anrufen. Natürlich wieder mal kein Handyempfang.
Also heute Abend von zu Hause, und ihn bitten, sie zurückzurufen, sonst
beschwerte sich ihr Vater, wegen Ferngespräch. Allmählich wurde es ihr
langweilig – sie stöberte in Henrys Wagen rum und stellte fest, dass es dort
keine Bücher, keinerlei Lesestoff gab, das war vielleicht normal, nur sie hatte
anscheinend immer Bücher oder Zeitschriften unter dem Sitz, es hatte seine
Vorteile, das Auto nicht zu ordentlich zu halten. Da sie keinesfalls zurück ins
Krankenhaus wollte, um Us Weekly dort zu lesen, saß sie da und hörte Pittsburgh
NPR im Radio, dann war sie übermütig und stellte alle Stationstasten
drauf ein; ihr Vater hatte einen Quatschsender dringehabt. Und aus irgendeinem
Grund fand sie das überaus befriedigend.
    Als Henrys Arzttermin beendet war, fuhren sie

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