Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
wieder Richtung Süden
los. Sie machten in Buell ein paar Erledigungen, und die Frau am Bankschalter
erkannte Lee, genauso die Kassiererin im Supermarkt, die wusste noch, dass Lee
die Abschlussrede auf der Mittelschule und der Highschool gehalten hatte,
wusste noch, dass Lee nach Yale gegangen und dort ihren Abschluss gemacht
hatte; und sie wusste noch, dass Lee mit einem National-Merit -Stipendium
studiert hatte. Lee hatte Schuldgefühle – sie erkannte diese Frau nicht wieder,
lächelte jedoch und tat so. Instinktiv gab sie ihr die Kreditkarte, um für die
Einkäufe zu zahlen, aber Henry, dem das offenkundig peinlich war, streckte den
Arm vom Rollstuhl hoch und nahm der Frau Lees Karte wieder ab. »Ich zahle das
per Scheck.« Lee wusste nicht, ob sie sich jetzt entschuldigen sollte. Als sie
den Supermarkt verließen,fiel ihr ein, dass es wahrscheinlich höchstens
eine Handvoll Menschen in New Haven gab, die so viel von ihr wussten wie diese
Kassiererin.
    Einige Leute blieben auf dem Parkplatz stehen, um sich mit Henry zu
unterhalten, doch sie merkte, viele wollten einfach sie begrüßen. Ihr fiel auf,
wie viele Rentner es hier gab. Es schien, als wäre die Bevölkerung im Tal immer
mehr aufgeteilt zwischen sehr Alten und sehr Jungen, entweder die Rentner oder
Fünfzehnjährige, die Babywagen schoben, und dazwischen keiner übrig. Als sie
Henrys Rollstuhl für den Kofferraum zusammenklappte, war ein ohrenbetäubender
Lärm zu hören, langsam rumpelte ein Kohlenzug über die Gleise an dem Supermarkt
vorbei, an dem zur Hälfte abgerissenen Stahlwerk, das immer noch die Innenstadt
hoch überragte, über zwanzig Jahre hatte Henry dort gearbeitet. Sie konnte sich
erinnern, wie sie mit der Mutter hingegangen war, bei Schichtwechsel, der Pfiff
ertönte, und die Straßen waren voller sauber aussehender Männer, Overalls und
schwere Wollhemden, sie brachten ihre Vesperdosen mit zur Arbeit, und die
andere Gruppe Männer, meistens schmutzig, die herauskamen, mit leeren
Vesperdosen, der Respekt, den ihre Mutter bei den Arbeitern erweckte, obwohl
sie so klein und still war, und wie stolz Lee war, genau wie ihre Mutter
auszusehen, in der Pubertät hatte sie nie das ungelenke Stadium erlebt. Ihr
Vater hatte ihre Mutter nie in aller Öffentlichkeit angefasst, so wie die
anderen Männer ihre Frauen angrapschten, er küsste sie respektvoll und ergriff
dann ihre kleine Hand, er war ein großer, hellhäutiger Mann mit einer schweren
Stirn und Nase, nicht so attraktiv, eher eindrucksvoll, aus einer Männergruppe
stach er ebenso hervor wie das Stahlwalzwerk zwischen all den kleineren
Gebäuden in der Innenstadt.
    Als sie nach Hause kamen, half Lee ihrem Vater, aus dem Auto
auszusteigen, aber als er sich vom Sitz in seinen Rollstuhl hieven wollte,
rutschte er ab, und sie konnte ihn nicht halten – sogar alt und schrumpelnd war
er immer noch doppelt so schwer wie sie.Es war kein schlimmer Sturz, doch
während sie ihm half, den Rollstuhl auf der Rampe hochzuschieben Richtung Haus,
ärgerte sie sich, dass sie es mit Poe getrieben hatte, das war unfair,
gegenüber allen.
    ***
    Diese Nacht vernahm sie einen merkwürdigen Laut von draußen,
und dann hörte sie ihn wieder und ein drittes Mal, bevor ihr klar wurde, dass
jemand an der Haustür klopfte. Henry saß in seinem Zimmer vor dem Fernseher. Kurz
dachte sie an Isaac, doch während sie eilig zur Tür lief, fiel ihr ein, dass
Isaac nicht klopfen würde. Es war dunkel, und sie spähte durch den Spalt. Auf
der Veranda sah sie Poe stehen.
    Er lächelte, aber sie lächelte nur halb zurück, er merkte, in ihr
hatte sich etwas verändert.
    Als sie aufmachte, da sagte er als Erstes: »Muss mit deinem Bruder
reden.«
    »Warte, ich hol meinen Mantel.«
    Weiter wurde nichts gesagt, bis sie nach draußen kam und sie die
Einfahrt weit genug entlanggegangen waren, außer Hörweite des Vaters.
    »Isaac ist gestern Morgen aufgebrochen«, sagte sie. »Ein paar
Stunden nach dir. Und mit gepackter Tasche.«
    Sie beobachtete, wie in seinen Zügen die Verwirrung der Angst Platz
machte und dann einem Gesicht, das sie noch nie gesehen hatte und das gar
nichts zeigte.
    »Poe?«
    »Wir müssen reden«, sagte er gefasst. »Aber nicht hier.«
    Sie ging und sah nach ihrem Vater. Aus dem Fernseher kam nur Getöse.
    »Pirates gegen Padres«, sagte er. »Falls es dich interessiert.«
    »Ich glaube, Poe und ich, wir fahren mal ein Stück«, sagte sie ihm.
    Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu, nickte dann.
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher