Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
gemacht.

5 . Lee
    Isaac war fast zwei Tage weg, sie hatte seitdem ständig Poe auf
seinem Handy angerufen, doch da kam nur eine Ansage, dass diese Nummer nicht
vergeben sei. Er hatte wieder mal die Rechnung nicht bezahlt. Was Poe so alles
machte – seine Rechnungen verspätet zu bezahlen, mit dem alten Auto
rumzufahren, das andauernd kollabierte –, hatte sie immer rebellisch und auch
irgendwie bewundernswert gefunden, aber jetzt kam es ihr unreif und nervtötend
vor. Sie musste ihren Bruder finden. Was für Leute zahlen ihre Handyrechnung
nicht? Dann dachte sie: Die Leute, die es sich nicht leisten können. Wütend war
sie trotzdem auf ihn. Wütend auf sich selbst. Sie legte ihren Kopf auf den
Tisch, langsam bis zehn zählend. Danach ging sie ihren Vater holen, der in
Charleroi im Krankenhaus einen Termin hatte, sie mussten jetzt mal los.
    Von Buell ging es den Fluss entlang nach Norden, und ihr Vater, der
den auf Handsteuerung gerüsteten Ford Tempo lenkte, fuhr zu schnell für diese
schmale Straße. Aber bald schon lenkte sie das Tal mit seiner Schönheit ab: das
Ufer gegenüber, das sich steil vom Wasser her erhob, mit Bäumen, Ranken und
rotbraunen Felsnasen, dazu das ungezähmte Grün, das alles überwucherte, die
Äste, die sich auf der Suche nach mehr Licht weit übers Wasser reckten, und das
kleine weiße Ruderboot, vertäut in ihrem Schatten.
    Ein Stück weiter war die alte Kohlenrutsche, die sich über die gesamte
Hügelflanke zog, unübersehbar, die auf hohen Stahlpfeilern die Straße
überspannte, durch die Rostlöcher im Boden war der Himmel zu erkennen; eine
Hängebrücke, Eisen, quer über den Fluss. Sie war gesperrt, von beiden Seiten,
die Strukturvom Rost komplett erobert und pockennarbig. Dann kamen
zahlreiche verlassene Gebäude, wie ein Ausschlag auf dem riesigen Gelände der
in Taubenblau gestrichenen und stahlverkleideten Fabrik, mit Schornsteinen,
befleckt von den allgegenwärtigen rotbraunen Schlieren, und das Tor fest
zugekettet seit wie vielen Jahren, seit sie lebte, war sie schon geschlossen.
Letzten Endes alles Rost. Das definierte diesen Ort. Welch geistvolle
Beobachtung. Wahrscheinlich war sie erst der zehnmillionste Mensch, der sie
gemacht hatte.
    Was ihren Vater Henry anging, er wirkte zufriedener, als sie ihn je
gesehen hatte, er war glücklich über ihre Heirat, das beruhigte ihn, damit war
sie weniger wie ihre Mutter, die erst, als sie über dreißig war, geheiratet
hatte, zuvor mit einem anderen verlobt, bevor sie Henry traf. Ihr Vater würde
sich mit Simon nie verstehen, so viel wusste sie. Die beiden waren sich niemals
begegnet, es gab immer einen Vorwand, und geheiratet hatte sie aus der Laune
des Moments, in einem Rathaus. Ob wohl, fragte sie sich, Simon wusste, was der
Grund war? Jedenfalls, beschwert hatte er sich noch nicht. Doch Henry wusste,
dass das Vorwände waren, er wusste auch, warum sie welche vorschob, und spielte
doch mit und sagte: »Na, dann treff ich ihn ein andermal.« Er hatte immer viel
Respekt für sie gezeigt, genau wie für die Mutter, dies Gefühl jedoch mit der
Verachtung ausgeglichen, die er Isaac entgegenbrachte. Auch ein Mann wie Henry
hatte seine Grenzen.
    Schon seit ein paar Tagen war das Geld, das Isaac gestohlen hatte,
nicht erwähnt worden, und Isaacs zweites Verschwinden kommentierte Henry mit
»Der ist bald wieder hier«. Da wusste sie aus irgendeinem Grund, dass er nicht
mehr zurückkommen würde, nicht jetzt noch sonstwann.
    ***
    Vorm Krankenhaus von Charleroi stand sie in der Sonne, wartend,
hoch auf einem Berg mit Blick über die Stadt, den riesenhaftenFriedhof, der
am anderen Flußufer die ganze Hügelflanke okkupierte, und noch weiter, so weit
sie nur sehen konnte. Dieser Friedhof wirkte größer als die Stadt. Sie spürte
anbrandende Schuldgefühle.
    Isaac war doch aus freien Stücken hiergeblieben. Eine andere Erklärung
fiel ihr nicht ein – schließlich hatte er sie ein Mal in New Haven besucht, es
schien gut zu laufen, selbst eine Art Mentor hatte er gefunden, ihren Exfreund
Todd, Todd Hughes, der angeboten hatte, Isaac bei den Bewerbungen zu helfen,
und danach ein halbes Dutzend Mal nach ihm gefragt hatte. Auf ihre Angebote,
sie bald wieder zu besuchen, war ihr Bruder jedoch nie zurückgekommen, bis sie
schließlich aufhörte, es anzubieten. Vielleicht hatte ihn das unter Druck gesetzt,
dieser Besuch. Sie selbst hatte nicht eine Uni vorher aufgesucht, sie traute
damals ihrem Urteil nicht, das sie für provinziell hielt. Und zu

Weitere Kostenlose Bücher