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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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fuhren an den Fluss, zu einem Park am Stadtrand. Es war dunkel,
alles wirkte überwuchert, große Schlammlachen dazwischen, war wohl früher Gras
gewesen, sicher war sie nicht. Sie hatte angefangen, diesen Ort genauso zu
vergessen wie die Einzelheiten über diese Stadt und den Tag, als sie an die Uni
ging. Sie fanden eine Bank, von jahrelangen Neuanstrichen voller Höcker, aber
Flussblick, und sie setzten sich.
    »Er hat uns neulich hören können«, sagte sie.
    »Was hat er denn gehört?«
    »Na, alles.«
    Poe schwieg, sie betrachtete das Wasser. Sie war oft schon hiergewesen,
hatte den Ort schöner in Erinnerung, es war der Lieblingsknutschplatz für die
Schulkinder. Sie war mit ihrem ersten Freund, mit Bobby Oates, zum
Nacktschwimmen hierhergekommen, hatte sich in Rückenlage treiben lassen, in den
Nachthimmel geschaut und dann nach ihm, und er war weg gewesen, panisch hatte
sie sich umgedreht, aber er blieb verschwunden. Jeder wusste, dass es
Unterströmungen gab, und sie tauchte, suchte, aber es war hoffnungslos, zu
dunkel, und sie rief ihn, ganz egal, ob sie wer hörte, und sie weinte, schwamm
schließlich ans Ufer, Hilfe holen, als er plötzlich auftauchte. Er hatte nur
den Atem angehalten. Später diese Nacht hatte sie dann mit ihm geschlafen, er
war achtzehn und sie sechzehn, und es war ihr erstes Mal. Ja, dachte sie, und
dann habe ich mich getrennt von ihm. Das hatte doch eine gewisse Würde.
    »Bist du da«, sagte Poe gerade.
    »Tschuldigung.«
    »Wir sind in Schwierigkeiten, er und ich. Ich wurde heut verhört und
werde morgen früh verhaftet.«
    Lee starrte ihn an – das war absurd.
    »Wir sind in Schwierigkeiten«, wiederholte er. »Wir beide, Isaac und
ich.«
    »Was ist passiert«, sagte sie. Ihre Stimme hörte sich so an, als käme
sie von jemand anderem.
    »Der Kerl, den sie gefunden haben, bei der alten Bahnwaggonfabrik.
Stand in der Zeitung, dass ein toter Penner aufgefunden wurde.«
    Etwas krampfte sich zusammen, spürbar, tief im Magen, und sie schloss
die Augen, eine Taubheit überfiel sie.
    »Ich war’s nicht.«
    »Wo ist mein Bruder«, sagte sie.
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass sie ihn nicht verdächtigen.«
    »Aber er hat damit zu tun.«
    »Das könnte man so sagen.«
    Sie war neugierig, aber sie hatte Angst. Dann dachte sie an die vier
Firmen aus dem Telefonbuch von Buell, häusliche Krankenpflege, wenn sie eine
anrief, konnte sie schon morgen Nachmittag in Darien sein, und sie fühlte, wie
sie dicht machte, dicht allem gegenüber, was hier war, Poe ebenso wie ihrem
Vater, sie sah sich in Simons Garten, beim Beobachten der Glühwürmchen über dem
Teich, mit Simons Eltern irgendwo im Hintergrund, die Gäste hatten. Nichts an
jenem Ort drückte sie nieder. »So, ich glaub, ich bring dich jetzt nach Hause«,
sagte sie zu Poe.
    »Ich war’s nicht.«
    »Ich will nichts damit zu tun haben, das geht nicht.«
    »Lee, ich schwöre, nicht mal angefasst hab ich ihn.«
    »Komm, wir gehen«, sagte sie, »es tut mir leid.«
    »Isaac war’s.«
    Sie sah ihn lange an.
    »Isaac war’s«, sagte er wieder.
    »Lügner«, sagte sie, aber da war etwas in Poes Gesicht. Sie glaubte
ihm. Und lange blieb es still. Ihr kribbelte die Kopfhaut, plötzlich wurde ihr
sehr kalt, sie zitterte, vielleicht lag’s an der Temperatur, wer weiß, ihr war,
als wäre alles Blut aus ihr hinausgelaufen.
    Poe beugte sich vor, auf seine Ellbogen gestützt, die Augen abgewandt,
und fing mit der Geschichte an, als würde er sie nur sich selbst erzählen oder
auch dem Fluss, er ließ nicht eine Einzelheitweg, und nach einer Weile
lehnte sie sich an ihn, halb, weil sie sich Trost wünschte, und halb, weil ihr
so kalt war. Eigentlich hätte sie weinen sollen, fand sie, doch sie tat es
nicht – der Augenblick der Überraschung war bereits vorbei.
    Und er erzählte ihr, wie er in seinem Garten fast erfroren wäre, weil
er seiner Mutter nach dem, was geschehen war, nicht gegenübertreten konnte. Lee
war immer noch ganz Ohr, aber in ihrem Kopf gingen die Türen auf, sie dachte,
beide werden einen Anwalt brauchen, aber sie sind nicht mehr auf derselben
Seite. Du wirst dich für einen von ihnen entscheiden müssen, ja, so einfach ist
das. Isaac steht gegen Poe, nein, Isaac mit seinem Vater gegen Poe.
Gefangenendilemma, Grundkurs Wirtschaft. Wenn alle mitmachen und den Mund
halten, dann geht es gut aus – Nash-Gleichgewicht. Oder lag das vor, wenn beide
Seiten nicht mitmachten? Das war dabei ja der springende Punkt – dass die

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