Rost
Leute
selten mitmachten. Poe redete noch immer, aber sie war außerstande, ihm zu
folgen. In der Handtasche steckte das Scheckbuch, obenan stand Simons Name
neben ihrem, und sie hatte es dabei, weil sie gewusst hatte, sie würde es hier
brauchen, für die Pflegekraft, für Hausreparaturen, und jetzt hätte sie Poe
einen Scheck ausstellen können, einfach so, damit er einen guten Anwalt kriegte
und die Chance, aus seinem Schlamassel wieder rauszukommen.
Nur dass es für Isaac nichts brachte, wenn Poe einen guten Anwalt
kriegte. Eher im Gegenteil. Er redete noch immer, vom Gespräch mit Harris, doch
das war egal, was Poe für wichtig hielt, war nicht mehr wichtig. Einen Anwalt
würde er sich gar nicht leisten können, schließlich wohnte er in einem Trailer.
Wenn sie ihm jetzt einen Anwalt engagierte und wenn Simon jemals zufällig auf
diesen eingelösten Scheck schaute, was unwahrscheinlich war, doch trotzdem,
sollte Simon oder Simons Vater je entdecken, dass sie einen Scheck ausgestellt
hatte für den Anwalt eines Exfreundes, eines Geliebten, der des Mordes
angeklagt war, dann wäre wohl Schluss. Ganz einfach. Poe hatte jetztaufgehört zu reden. Er saß da in seiner eigenen Welt und schaute auf den
Fluss hinaus. Sie konnte es nicht fassen, dass es hier so dunkel war.
»Ich werd ihn nicht verpfeifen«, sagte er, ihr Schweigen fehldeutend.
»Ich hoffe sehr, das weißt du. Niemals würde ich ihm so was antun, und dir auch
nicht.«
»Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte sie, ihm auf die Schulter
klopfend.
»Ich glaub, er ist nach Berkeley, davon hat er ständig was erzählt.«
»Nach Berkeley, Kalifornien?«
»Ja«, sagte er. »Die Uni da.«
Sie schüttelte den Kopf – das war doch unsinnig. Sie überlegte kurz,
ob Poe sie anlog. Glaubte sie zwar nicht, doch war jetzt alles anders, und
vermutlich tat sie besser dran, dem, was er sagte, höchstens halb zu trauen.
»Gibt es noch wen, der Bescheid weiß?«
»Es gibt einen von den Alten in der Bibliothek, mit dem er öfters redet,
und das war’s schon.«
»Neulich Nacht ist also Folgendes passiert: Er hat gemerkt, dass der
Freund, dem er wirklich trauen können muss, mit seiner Schwester fickt und ihn
deswegen anlügt.«
»Lee.«
»Ich bin wahrscheinlich nur verwirrt, warum wir einen trinken gehen
mussten, als ihr zwei gerade fast verhaftet worden wärt. Wenn du mich anrufen
wolltest, dann hättest du’s doch einfach tun können.«
»Wie sollte ich dich anrufen, verdammt? Ich wusste nicht mal, dass
du in der Stadt bist.«
»Hätten wir’s bloß nicht getan«, sagte sie. »Das war so dumm, nicht
zu fassen. Wir sollten doch diejenigen sein, die ihn beschützen.«
Ungläubig sah er sie an. »Du weißt doch gar nichts von ihm.«
»Doch. Er ist mein Bruder.«
»Du bist schon sehr lange weg, Lee.«
»Und jetzt bin ich wieder da.« Sie stand auf. »Und bring dich nach
Hause.«
Poe blieb sitzen. »Es ist etwa zwei Monate her, da ging er schwimmen,
hier im Fluss. Das wusstest du wahrscheinlich nicht, denn er würde es dir nie
sagen, und als ich dich anrief, weil ich drüber reden wollte, hast du nicht
zurückgerufen. Jedenfalls, ich musste hinterherspringen und ihn da rausziehen.
An dem Tag hatten wir draußen zirka minus 7 Grad, ich
weiß nicht, wie wir das geschafft haben.«
Sie sagte nichts. Sie hatte vage in Erinnerung, dass Poe mal eine
Nachricht hinterlassen hatte, und natürlich hatte sie ihn nicht zurückgerufen,
denn sie wusste ja nicht, worum es da ging.
»Das ist kein großes Rätsel, Lee. Du tust halt einfach so, als würde
alles gut, bis du bereit bist, dich darum zu kümmern.«
»Hör jetzt auf.«
»Was mit dem Mann passiert ist, geht auf meine Kappe«, sagte er.
»Ich weiß das. Aber es lag nicht allein an mir.«
Er musterte sie lang, dann stand er auf.
»Erst machst du ein paar Jahre mit mir rum, dann heiratest du, was
ich nicht einmal von dir erfahre, und jetzt werd ich noch für deinen Bruder
eingesperrt.«
»Ich glaube, du verstehst nicht alles.«
»Ich versteh dich ziemlich gut. Du bist nicht anders als die anderen.«
Sie schwieg. Ihr Kopf hatte sich abgeschaltet, wie es schien.
»Dein Bruder hatte recht«, sagte er. »Was dich angeht, meine ich.
Ich weiß nicht, wie ich je was anderes glauben konnte.«
Er ging los, in Richtung Straße. Sie schaute ihm nach, dann stand
sie auf und rannte hinterher.
Als sie ihn einholte, fragte sie: »Hast du einen Anwalt?«
»Harris meinte, dass er einen guten Pflichtverteidiger
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